Am Beispiel meines Bruders

Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm

Inhalt

Es sind keine neuen Fragen der Geschichte, die und denen sich Uwe Timm in seiner privathistorischen Aufarbeitung „Am Beispiel meines Bruders“ (2003), stellt.

Der Autor, ein Kind des Zweiten Weltkriegs, gehört zu einer Generation von Männern und Frauen, die diesen Krieg und seine Zusammenhänge nahezu unbewusst erlebten, aus der Sicht eines Kindes: unfassbar das Ganze, nur im begrenzten Raum auf winzige Erfahrungen beschränkt und im Nachhinein erkennbar sich ausdrückend im Handeln und Denken jenes ersten, engsten Lebenskreises: der Familie.

Der Bruder und ich

Uwe Timm erinnert sich in diesem Buch an seinen 1943 im Krieg verwundeten und verstorbenen Bruder Karl-Heinz: mittels Erinnerungsfetzen des damals zwei- bzw. dreijährigen Jungen Uwe, aus Erzählungen der Eltern; anhand von Fotos, der Tagebuchaufzeichnungen und den Briefen des Bruders nach Hause.

Er zitiert aus diesen, streut Gedanken über Fotos ein, die er betrachtet oder über die vom Bruder gebliebenen, in einem Kästchen verstauten Dinge, und stellt Überlegungen an.

Im Zuge dieses gedanklichen „Zurückkehrens“ entwickelt Timm eine Art totaler Wahrnehmung: er sieht, riecht und schmeckt seine Kindheit, fühlt dem Händedruck seiner Mutter nach und beobachtet, erinnert genau, lauert und forscht in dieser, seiner Vergangenheit, und schreibt sie nieder.

Jene Zeit, in der geschwiegen wurde, Augen geschlossen wurden und das Vergessen jegliche Erinnerung ersticken sollte. Es ist, natürlich, die Frage nach der (Mit-)Schuld: des Bruders und auch der Familie, die sich zu entspinnen beginnt und ausgreift in den kritischen Blick auf eine Generation, die zugleich Vätergeneration ist.

Familienkonflikte werden auf die durch einen Krieg und ein Gewaltregime geprägte Gesellschaft übertragen. Ein Wechselspiel entfaltet sich, das in den Gedanken des Autors hin und her geschoben, neu verbunden und verknüpft wird, ohne den Blick auf jenen Menschen zu verlieren, dessen Ergründung augenscheinlich Ziel und Aufgabe des Buches ist.

Dabei wird das Erinnern und vor allem das Schreiben für den Autor quasi zur körperlichen Anstrengung: Es geht nahe. „Der Bruder und ich.“ – Uwe Timm verarbeitet in diesem Buch auch ein Stück von sich selbst, spürt dem Vergangenen rücksichtslos nach.

Fazit

„Am Beispiel meines Bruders“ fragt in besonderer Weise nach den Menschen, ihren Reaktionen, ihrem Verhalten und auch ihren Gefühlen. Es mag in jener breiten Sparte über das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg oder den Nationalsozialismus nur ein weiteres Buch sein.

Doch liefert gerade Timms literarische Auseinandersetzung eine weitere, wenn nicht gar andere Perspektive, sich dieser Thematik zu nähern. Aus der Sicht eines Kindes wird auf einen „unfassbaren“ Bruder geblickt; erinnert sich ein Mann, der scharf und erbarmungslos seiner Familie auf den Zahn fühlt.

Er dreht und wendet jedes Detail, besieht, befühlt und erfasst bewusst alles von neuem, so dass ein Erinnerungsband entstanden ist, der händeringend nach Verstehen sucht und letztlich auch Bekenntnis ist.

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