Der Gedankenleser

Der Gedankenleser von Jürgen Domian

Inhalt
Arne Stahl ist ein Mittvierziger mit einem guten Job in einer Redaktion, einer lieben Frau (Anna), mit der er seit 13 Jahren verheiratet ist und einem schönen Haus. Eines Tages wacht er im Krankenhaus auf. An einem schwülen Sommertag hatte ihn auf offenem Feld ein Blitzschlag erwischt. Er wundert sich, dass der Arzt teilweise ohne Lippenbewegungen spricht. Nach und nach geht ihm auf, dass er die Gedanken anderer Menschen hören kann, wenn er ihnen nah genug ist. Gefühle seiner Mitmenschen „sieht“ er vor seinem inneren Auge – je nach deren erlebtem Gefühl in einer anderen Farbe.

Diese Gabe, über deren Besitz sich wohl schon mancher Leser Gedanken gemacht hat und sie sich gewünscht hat, desillusioniert Arne jedoch jeden Tag mehr: er erfährt, dass seine Frau ihn nie geliebt, ja nicht einmal begehrt hat, dass seine Kollegen ihn nicht schätzen, er muss die – zum Teil sehr abstoßenden – Gedanken wildfremder Menschen mit anhören und zieht dann daraus drastische Konsequenzen: zunächst trennt er sich von seiner Frau und begibt sich dann auf die Suche (im wahrsten Sinne des Wortes) nach dem Sinn des Lebens.

Hintergrund
Der Autor Jürgen Domian, Jahrgang 1957, ist einer der bekanntesten deutschen Radio-Moderatoren und moderiert mittlerweile seit über einem Jahrzehnt eine eigene nächtliche Talksendung beim öffentlich-rechtlichen Sender Einslive. „Der Gedankenleser“ ist ein eher beobachtender, kritisch-zweifelnder Roman, dabei jedoch nicht unbedingt depressiv. Jürgen Domian gelingt es, die Gedanken des Hauptprotagonisten Arne von der ersten Seite an eindrucksvollen und bewegend zu schildern. Viele der Gedanken, die Arne sich macht, haben sich die Leser indes – abhängig natürlich immer ein wenig vom Alter – sicherlich auch schon gemacht.

Fazit
Der Roman ist wirklich lesens- und empfehlenswert! Die Schilderungen des Autors über die Desillusionierung von Liebe und Beziehung, des Lebens allgemein, der Wahrheit und der Aufrichtigkeit von Menschen sind wunderbar geschrieben und geben zu denken. Sicherlich hat jeder Leser die ein oder andere Erfahrung – auch ohne Gedanken lesen zu können – ebenfalls schon gemacht, aber Jürgen Domian bringt es in dichter Form und schöner Sprache sehr gut auf den Punkt.

Etwas enttäuschend ist die Nachlässigkeit (des Autors bzw. des Lektors) bei der Schilderung, wie der Protagonist seine „Gabe“ analysiert. Er schildert auf Seite 45-47, wie er Stimmen hört, wie nahe er jemandem sein muss, um sie zu hören, dass es eigentlich nur eine Stimme ist, egal ob ein Kind, ein Mann oder eine alte Frau redet, welche Farben welche Stimmungen haben usw. Auf Seite 50 hingegen schreibt er, er wäre bisher „keinem Menschen, außer Anna, … nahegekommen, und nur wenige … gesehen“. Es wäre gar kein Problem gewesen, diesen zeitlichen Widerspruch auszumerzen, aber leider ist dies – wie so oft – im heutigen Verlagsbetrieb untergegangen. Schade.

Alles in allem ist es jedoch ein wirklich tolles Buch, das zum Nachdenken anregt, gleichzeitig aber so „locker und leicht“ geschrieben ist, dass man es wunderbar lesen kann, ohne das Gefühl zu haben, wie von einem Dostojewski erdrückt zu werden.

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