Der Vorleser

„Der Vorleser“ von Bernhard Schlink.

Roman. Erschienen im Jahre 1995,  Einband aus okkerfarbenem Leinen. Umschlagillustration: Ein Ausschnitt aus Ernst Ludwig Kirchners „Nollendorfplatz“, 1912.

Der Roman ist unterteilt in drei Abschnitte. Es ist eine personale Erzählung aus der Sicht eines erwachsenen Mannes, der sich an seine Jugendzeit erinnert.

Im ersten Teil lernt der Erzähler, Michael Berg, 15 jährig, eine 36-jährige Frau kennen, von der er verführt werden will und wird. Ihre Beziehung, die einen Sommer lang dauert, endet abrupt als Hanna ihn ohne ein Wort verlässt. Im zweiten Teil und Jahre später, Michael studiert Jura, sieht er Hanna in einem Gerichtssaal wieder. Sie ist Angeklagte in einem Prozess um nationalsozialistische Verbrechen und wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Im dritten Teil des Romans  schickt Michael ihr, während ihrer Haft, von sich besprochene Kassetten auf denen er ihr aus Klassikern der Literatur vorliest. In Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit, denn auch damals hat er ihr viel vorgelesen. Am Tag ihrer Entlassung will Michael sie abholen, doch Hanna hat sich in der vorigen Nacht erhängt.

Schlink fordert mit diesem Roman zur Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit auf. Er macht auf subtile Weise auf die Aufgaben der nachfolgenden Generationen aufmerksam.

Doch ist der Roman im Hinblick auf Aufklärungsliteratur nicht nur hilfreich bezüglich der Aufarbeitung der deutschen nationalsozialistischen Verbrechen, sondern auch für die Jugend, welche in einer Gesellschaft geprägt von Krisen, Ehescheidungen, Vernachlässigung durch die Eltern und „Kinder kriegen Kinder“-Nachrichten aufwächst. Die überwiegend liebevolle Beziehung zwischen Hanna und Michael schafft eine tiefgehende, bewusste Atmosphäre durch die intensiv erlebten Gedanken von Michael. Das schafft einen latenten Gegensatz zu der häufig schnelllebigen, oberflächlichen Lebensart von heute. Gegensätze sind in der Geschichte viele zu finden, so ist Michael jung und Hanna vergleichsweise alt, es geht um die Schuld von Hanna und die Unschuld von Michael. Es geht um seine Liebe und ihre Gleichgültigkeit.

Durch die gelungene Verzierung mit zahlreichen rhetorischen Mitteln regt der Roman auch zum „Hinsehen“ an. So beschreibt Schlink zum Beispiel das Haus in dem Hanna wohnt sehr ausführlich als ansehnlich, sogar schön von außen, doch kurz als abgetreten und abgewetzt von innen. Auch eine vollendete Metapher ist zu entdecken als er seine Liebe zu Hanna auf den Flug eines Flugzeugs überträgt. Ein wenig Schuldgefühl streut er mit einem Chiasmus „Ich habe nichts offenbart, was ich hätte verschweigen müssen. Ich habe verschwiegen, was ich hätte offenbaren müssen.“ Und um ein wenig Dynamik in den eher gemächlichen Handlungsverlauf zu bringen, gibt es immer mal wieder ein Asyndeton „Die Nacht, die Kälte, der Schnee, das Feuer, das Schreien der Frauen in der Kirche, das Verschwinden derer, die den Aufseherinnen befohlen…“

Ein anderes Thema, man könnte sagen die Kehrseite der Medaille, auf das Schlink mit seinem Roman aufmerksam macht, ist dass Frauen ebenso grausame Rollen füllen wie Männer. Hanna als Wärterin im KZ, die sich durch besondere Grausamkeit hervorgehoben hat. Hanna als Sexualstraftäterin durch Verführung eines Minderjährigen. Hanna, die körperlich misshandelt indem sie Michael mit einem Lederriemen ins Gesicht schlägt und schließlich Hanna, die Michael seelisch misshandelt indem sie ihm rigoros die Rolle des Schuldigen aller Streitereien zwischen ihnen auferlegt.

Zurück bleibt ein Mann, der sein Leben dem Lesen von Geschichten verschrieben hat, einsam und beziehungsgestört. Der nicht wahrhaben will, dass er in seiner Liebe zu Hanna hängen geblieben ist und einem Mutterkomplex unterliegt. Dessen Persönlichkeit sich zu spalten scheint, als er erkennt dass er nicht immer nach seinen Entscheidungen handelt. „…ich erkenne heute im damaligen Geschehen das Muster, nach dem sich mein Leben lang Denken und Handeln zueinandergefügt oder nicht zueinandergefügt haben…Es, was immer es sein mag, handelt; es fährt zu der Frau, die ich nicht mehr sehen will,….“

Fazit

Insgesamt ist es ein gelungener Roman, der die Nähe auf Distanz bezeugt, einen Einblick in die Philosophie gewährt und auch Interesse für deutsche Literatur und griechische Mythologie zu wecken vermag. Er ließt sich fließend auch durch schöne Wortwahlen, ist eine Huldigung an die Literatur und da lesen bekanntlich eine dankbare Beschäftigung ist, allemal wert, ihn zu lesen.

Und die Moral von der Geschicht? Weise ist der, der weiß, dass er nichts weiß; aber Unwissenheit schützt vor Torheit nicht.

1 Gedanke zu „Der Vorleser“

Schreibe einen Kommentar