Kamtschatka

Kamtschatka von Marcelo Figueras

Inhalt

Der 10jährige Harry wird eines Tages aus dem Unterricht geholt und erlebt zusammen mit seinem kleine Bruder die Flucht der Familie aus Buenos Aires, weil die Eltern als Regimegegner nach dem Putsch 1976 (Jorge Videla kam an die Macht) untertauchen müssen. Mit Hilfe von Freunden finden sie ein Versteck auf dem Land, nach der Beschreibung stelle ich mir ein aufgelassenes Wochenendhaus vor. Die Eltern fahren ab und zu allein in die Stadt zurück, versuchen zu arbeiten, Informationen zu erhalten, noch etwas aus der alten Wohnung zu retten. Diese Fahrten können nicht vorbereitet werden, sondern ergeben sich aus dem Moment heraus. Die beiden Jungen werden in der Dorfschule angemeldet, bleiben dort Fremde. Eines Tages kommt ein junger Mann namens Lucas, der sich ebenfalls verstecken muss, hinzu. Er wird zu einem grossen wichtigen Bruder, mit dem Harry ernsthafte Gespräche führen kann. Schliesslich muss sich die Familie doch trennen. Die Kinder werden zu den Grosseltern gebracht, Lucas verschwindet. Harry überlebt, aber er sieht seine Eltern nie wieder.

Beurteilung

Diese Geschichte wird uns als Erinnerung nahe gebracht, eine Erinnerung an Verfolgungszeiten, an verdrängte Angst und Gefahr.  Ich verfolge die Gedanken des Jungen, zum Teil kindlich, wenn er sein Spiel oder seine Autos wieder haben möchte, zum Teil erwachsen, wenn er spürt, dass sich seine Mutter einsam gefühlt haben musste. In die Abfolgen der Tage werden geschickt geschichtliche oder wissenschaftliche Erklärungen eingestreut. Sie werden wie nebenbei erzählt. Harry ist offen für diese Erkenntnisse, nimmt sie auf, denkt über sie nach und gibt sie dann an seinen kleinen ungläubigen Bruder weiter. Auch gibt es Rückblicke, die Hintergründe und das Entstehen dieser Familie beleuchten. Durch die unglaublich runde und bildhafte, auch witzige Sprache entsteht das Leben vor meinen Augen, das vernachlässigte Haus, der Garten, der Tümpel mit den Kröten, die hineinfallen, nicht wieder hinaus klettern könne, sterben und begraben werden müssen.

Die Tage in dem fremden Haus, ohne normale Abläufe, eigentlich in totaler Unordnung und mit Überlebensstrategien gespickt, sind für den Jungen aufregend, fast ein Spiel. Doch er beobachtet die Eltern genau und umsorgt fast wie nebenbei mit viel Liebe seinen kleinen Bruder. Die Liebe der Eltern ist allumfassend. Als Leser sehnt man sich die gleiche Liebe herbei.

Der Titel des Buches bezieht sich auf ein Spiel, das Vater und Sohn mit grosser Hingabe spielen und bei dem der Vater immer gewinnt, den Jungen nicht einmal aus Freundlichkeit gewinnen lässt. Es geht um Landeroberung und Verteidigung. Kamtschatka ist eine Region, in der man unbehelligt leben kann, weil sie so klein und unbedeutend ist. Daher wird der Name zu einem Synonym für ein Leben, das ohne staatliche Verfolgung gelebt werden möchte, ohne Angst vor dem nächsten Klingeln. Auch das Exil des Autors wird so genannt.

Fazit

Auch wenn Harry das Leben auf dem Land nicht als Flucht empfindet wie seine Eltern, bemerkt er doch ihre Angst und Unruhe, die einfach vorhanden und spürbar sind. Er spürt die Schwingungen, ohne sie benennen zu können. Das Leben dieser Tage ist nicht nur ein Versteckspiel, bei dem der Junge sehr gut aufpassen muss, sondern ein Spiel auf Leben und Tod. Auch wenn man die Geschehnisse, die ja im Nachhinein erzählt werden, nur aus dem Blickwinkel des Jungen miterlebt, spürt man doch die Gewalt des Regimes. Es mag nur eine Geschichte sein, vielleicht auch nur eine ausgedachte Geschichte, aber sie ist von ungeheurer Intensität. Ich habe geweint.

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