Anton Cechov: Erzählung eines Unbekannten
Triumph der Erzählung
Warum Anton Cechov auch heute noch unnachahmlich ist
Mit der Bitte, es nicht als blasphemisch zu betrachten, lasse ich das an einen Apostroph erinnernde Zeichen über dem C weg, was dem russischen Original das empfangende Etwas in Cechows Namen gibt. Wie ein arabischer Halbmond, der nach oben geöffnet in der Schwärze der Nacht liegt, symbolisiert dieser Buchstabenzusatz die große Bereitschaft das Leben in all seiner Gänze aufzunehmen und, so in Cechows Fall, gekonnt und meisterlich wiederzugeben.
Ein Meister des bürgerlichen Realismus abseits der Schwere Dostojewskis und der Langatmigkeit Leo Tolstois (ohne dabei jene beiden Großmeister in ihrer Vortrefflichkeit diskreditiert haben zu wollen).
Und gerade durch diese Schnörkellosigkeit ist es wohl auch zu erklären, dass der gute Anton in nur 23 Jahren – aufgemerkt und bass erstaunt – sechshundert, in Zahlen sieht das so aus: 600, literarische Werke zu Papier und so manch eines davon bis heute auch auf die Weltbühnen des Theaters gebracht hat.
Geboren 1860 in Taganrog lernte Cechow zunächst den Beruf des Arztes, den er später aber nur ehrenamtlich und selten ausübte. Grund für sein akademisches Interesse war unter anderem seine eigene Anfälligkeit für körperliche Beschwerden – zeitlebens plagte ihn die Tuberkulose; und so verwundert es nicht, dass der dafür typische Bluthusten in vielen seiner Stücke Verwendung findet, so auch in der Erzählung des Unbekannten, in der der Held sich mit schmerzhaftem rotem Auswurf auseinandersetzen muss.
Doch nicht nur die physische Malaise steht unserem unbekannten Antihelden schlecht zu Gesicht, auch seine politische Radikalität, seine emotionale Gebrechlichkeit oder seine wandelhafte Natur machen aus dem kleinen Roman, wie Cechows ihn selber nennt, eine große Sozialplastik.
Als Intrigant sich selbst ins Hause des Prinzen geschlichen, erlebt er den Betrug an dessen Frau und die chauvinistische und verantwortungslose Behandlung der ihm untergebenen Personen, Familie inklusive.
Dass die Geschichte ihren Spannungshöhepunkt nun mit einer Flucht des Helden und der Frau des Prinzen nach Venedig auf hollywoodeske Weise erreicht, ist das typische Cechovsche Geschenk der Faszination in der Realität.
Auch er selbst floh ja vor der Unbill russischer Kleinbürgerlichkeit und westasiatischer Klimaherausforderungen ins Markgräfler Land, genauer gesagt nach Badenweiler, wo er bereits 1904 als 44jähriger literarischer Held ein Ende fand, und wo man ihm, avantgardistische Randnotiz des Tages, als erstem Russen überhaupt ein Denkmal außerhalb des Heimatlandes setzte.
Im Diogenes-Hörbuch ist auf vier CDs der meisterhafte Cechows, gelesen von Ralf Boysen, erschienen. Wie bei Diogenes-Audiobooks üblich in meisterhafter Aufmachung.
Schlichtes, aber sehr haltbares und hübsches Pappschächtelchen (ein Accessoire das man sich bei Maxim Gorki, ebenfalls ein Vertrauter Cechows und ebenfalls ein russischer Meisterliterat, vorstellen könnte) mit schmalem Booklet und den vier Silberscheiben, apart in schmackhafte Teile zerlegt, damit man sich auch mal ein Hörpäuschen gönnen kann.
Fazit:
Mit Ralf Boysen als Sprecher ist dem Verlag das gelungen, was Badenweiler mit dem Tod Cechows gelungen ist (wenn man das mal ganz pietätlos so sagen darf). Ein Meister seines Faches hellt das eh schon strahlende Sonnenwerk auf.
Großartig wie der über 80jährige, Meriten behangene Schauspieler deutscher Bühnen den russischen Edelpoeten in Szene setzt, wunderbar, wie die eh schon faszinierende Geschichte, die Historie, russische Gesellschaftsanalyse und anthropologische Wahrheiten prägnant auf den Punkt bringt, das fiktive Element in Form einer Flucht nach Venedig zur Reife gelangen lässt.
Ich sitz schmatzend wie weiland Aristophanes auf meiner Kline und lass mir die literarischen Trauben in den Mund fallen. So wie der Apostroph es auf dem C des Meisters mir zeigen will.