Postlagernd: Algier – Ein zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute von Boualem Sansal
Was tut ein Mann, der zwar in einer guten Position ist, einen sicheren Arbeitsplatz hat, aber anfängt, das System des Landes, in dem er lebt, zu hinterfragen? Was tut ein Mann, der seine Analysen aber nicht einfach in der Öffentlichkeit sagen darf? Er beginnt sich Notizen zu machen und er schreibt sich seinen Frust so gekonnt von der Seele, dass er im Herbst 2011 für seine schriftstellerische Arbeit den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Es ist Boualem Sansal, der in Algerien lebt und seinen Arbeitsplatz wegen seiner kritischen Bücher verloren hat, der aber in Frankreich, Deutschland und Europa sehr geschätzt wird und dessen Romane außerhalb Algeriens verlegt werden, damit sie gelesen werden können.
Diese Rezension bezieht sich auf sein gerade neu aufgelegtes Buch „Postlagernd Algier“ und ist der Versuch mit seinen Landsleuten ins Gespräch zu kommen, denn auch dies ist in dem größten Land Afrikas nicht leicht. Es werden mehrere Sprachen gesprochen: Arabisch, Französisch, Tamasirt, Tamahaq und die Sprache des Staates, der alles und jeden beeinflusst und sich in das private Leben der Bürger so sehr einmischt.
Ein zorniger und hoffnungsvoller Brief
Boualem Sansal schreibt in „Postlagernd Algier“ einen „zornigen und hoffnungsvollen Brief“ an seine Landsleute, um sie aufzurütteln, sie zum Gespräch zu animieren, über ihre politische und wirtschaftliche Lage in Algerien nachzudenken.
Er greift Themen auf, die das Volk von jeder Regierung zu hören bekommt und die gebetsmühlenartig immer die gleichen Phrasen wiederholt, die keiner mehr hören will: „Das algerische Volk ist arabisch“, „Das algerische Volk ist muslimisch“, „Arabisch ist unsere Sprache“ usw.
In einfachen Sätzen erinnert er seine Landsleute daran, dass 82-84% der Algerier, Berber sind, dass der Islam erst im 7. Jahrhundert mit den Arabern nach Nordafrika und Algerien eingeführt wurde und dass Arabisch für viele eine Fremdsprache geblieben oder nur die Sprache der Religion ist.
Die Geschichte Algeriens ist nicht arabisch
Phönizier, Römer, Vandalen, Byzantiner, Araber, Osmanen, Franzosen; alle haben Nordafrika besiedelt und ihre Spuren bei der einheimischen Urbevölkerung, den Masiren, den freien Menschen, hinterlassen, die bei uns besser als Berber bekannt sind. Den größten Einfluss hinterließ Frankreich, dass Algerien hundertzweiunddreißig Jahre als Kolonie beherrschte und sich als französisches Departement angeeignet hat. Auch nach der Unabhängigkeit 1962, die in diesem Jahr zum 50. Mal gefeiert wird, ist der Einfluss Frankreichs noch vorhanden.
Staatliche Überwachung überall
Boualem Sansal schreibt über seine Erfahrungen als Schriftsteller, der mit Zensur und den ständigen staatlichen Überwachungen lebt, so wie viele seiner Mitbürger, die von den sogenannten „selbsternannten Tempelwächtern“ denunziert werden. Dass er noch nicht ausgewandert ist, wie viele seiner Kollegen, wird ihm in der Fachwelt hoch angerechnet, doch er lebt in und mit einer gewissen Angst in seinem, trotzdem geliebten Land.
Freiheit und Wahrheit, Würde und Menschenrechte
Seine Analysen sind scharf formuliert, aber freundlich. Jedes Kapitel endet mit einem Vorschlag zum Aufbruch, Anregung zur Diskussion, zum Anpacken, aber nicht mit Gewalt, sondern im Dialog. Es gibt genügend Themen, die in diesem Buch zur Sprache kommen. Natürlich kennt jeder Algerier die Geschichte seines Landes, aber Boualem Sansal bringt die Tatsachen auf den Punkt. Freiheit und Wahrheit, Würde und Menschenrechte wünschen sich auch die Algerier, so wie jedes Volk auf der Welt, aber durch die Jahrzehnte lange Unterdrückung eines Staatsapparates, der unsichtbar im Hintergrund agiert, ist der „Feind“ kaum angreifbar.
Interview mit Boualem Sansal zur Lage in der arabischen Welt
Am Ende des Buches werfen vier Essays einen Blick auf die aktuelle Situation im Maghreb und in der arabischen Welt, die die „Jasminrevolution“ in Tunesien ausgelöst hat, den „Islam im Wandel der Zeiten“, „50 Jahre unabhängige Länder Afrikas“, ein Ausblick auf das „Morgen in der arabischen Welt“, gefolgt von einem Interview über die Jugend, ihre Visionen und Aktivitäten und ihre aktuelle Lage im Maghreb und Arabien.
Autor:
Boualem Sansal ist 1949 in dem kleinen Berberdorf Teniet el-Had in Algerien geboren und schreibt seit 1999. Davor arbeitete er im Staatsdienst als Generaldirektor im Ministerium für Industrie und Umstrukturierung. Er studierte in Algier industrielle Ökonomie. In Deutschland wurde er hauptsächlich bekannt mit seinem Roman „Das Dorf des Deutschen“. Sein neuestes Werk „Rue Darwin“ ist gerade in Frankreich erschienen.
Fazit:
Ein wichtiges Buch in unserer heutigen Zeit und ein Buch, das zum Nachdenken anregt, nicht nur für Algerier, sondern gerade auch für den interessierten Leser, der nicht in Algerien lebt. Es ist ein aufklärender Beitrag über die heutige politische und wirtschaftliche Situation des Landes und die Meinung eines Mannes, der die Lage kritisch, aber nicht hoffnungslos sieht.