Ausgeblendet

Ausgeblendet von Maissa Bey

Drei Fahrgäste betreten nacheinander das Abteil. Eine Frau mittleren Alters, ein älterer Mann und ein junges Mädchen. Keiner grüßt. Der Zug setzt sich in Bewegung und steuert sein Ziel Marseille an. Jeder mustert jeden mehr oder weniger und schweigt.
Die Frau hält sich in Frankreich auf, sie ist Algerierin. Der Mann ist Franzose. Die Großeltern des jungen Mädchens waren Algerien-Franzosen. Alle drei hängen ihren Gedanken nach. Während die Landschaft Frankreichs im abendlichen Dämmerlicht an ihrem Abteilfenster vorbei zieht, denkt die Frau mit geschlossenen Augen an die Landschaften in Nordalgerien, der Mann mustert die Frau, auch er hat Erinnerungen an Algerien, allerdings ganz anderer Art…
Das Mädchen setzt sich die Kopfhörer ihres Walkmans auf und hört Musik.

Plötzlich schreckt die Frau aus ihrem Halbschlaf. Sie hat Schreie gehört, warum reagieren die beiden nicht. Hatte sie geträumt ? Nein, nun bleibt der Zug stehen und Leute laufen im Gang hin- und her. Auch der Mann und das Mädchen reagieren und schauen auf. Eine Frau kommt aufgeregt in das Abteil und erzählt von einem Überfall in der ersten Klasse, Diebe versuchten die Reisenden zu bestehlen, man muss sie aufhalten, sie fassen, das waren bestimmt Araber…

Da ist es wieder, dieses Gefühl der Angst, das sie so gut kennt. Die Algerierin hat ein leichtes Schwindelgefühl, hoffentlich waren es keine Algerier, denkt sie noch.
Nur zögerlich kommt jetzt ein Gespräch in Gang. Der Franzose fragt, ob er ihr helfen könne, er sei Arzt. Das Mädchen gibt ihr das heruntergefallene Buch zurück, in dem sie einige Zeilen las, bevor sie einnickte.

Der Franzose sagt, dass er Algerien kennt. Die Frau fragt sich, woher er sofort wusste, dass sie aus Algerien kommt, aber dann fühlt sie ihre Ohrringe aus ihrer Heimat, der Kabylei, die sie mit Stolz trägt. Außerdem sah er das Etikett auf ihrem Koffer mit der Heimatadresse.

Nun interessiert sich auch das Mädchen für das Thema der beiden Gesprächspartner. Sie spricht von ihrem Grossvater, der zwar viel von Algerien erzählt, aber mehr von der Zeit vor dem Unabhängigkeitskrieg, der so viele Opfer forderte, in dem der algerischen Bevölkerung so viel Leid zugefügt wurde.

Das eigentliche Thema dieses Buches rückt in den Mittelpunkt. Der Vater der Frau, der Schriftstellerin, war Lehrer in einem Vorort von Algier, wurde, wie so viele, verhört, gefoltert und umgebracht. Über eine Million algerische Opfer gibt es nach dem Unabhängigkeitskrieg, der von 1954 bis 1962 dauerte, zu beklagen.
Der Mann, einer von einer Million Soldaten, die der Verteidigung französischer Interessen dienten, der vielen Franzosen, die sich in Algerien ab etwa 1847 angesiedelt hatten und der dort geborenen Algerien-Franzosen, wurde 1957 als Wehrdienstleistender während des Unabhängigkeitskrieges, in einen Vorort von Algier geschickt…. Nun sitzt er ihr gegenüber und schweigt.
Schmerzliche Erinnerungen werden wach, bei der Frau ebenso wie bei dem Mann. Sie beginnen Sätze, stocken, erinnern sich und schweigen. Das Mädchen spürt die Spannung und stellt Fragen, unangenehme, sie will mehr wissen, von dem, was ihr Großvater nicht erzählt, der dieses Thema für sich „Ausgeblendet“ hat, wie so viele Verantwortliche…

Fazit:

Verhöre, Folterungen und Mord waren an der Tagesordnung während der „Ereignisse“, wie man den Unabhängigkeitskrieg im Kolonialherrenland Frankreich nannte. Diese Tatsachen werden „Ausgeblendet“. Bis heute wurde das Kapitel der Folter in der Geschichte zwischen Frankreich und Algerien nicht aufgearbeitet. Man schweigt sich aus. Algerien erwartet, mit Recht, eine Entschuldigung, die bis heute, fast 50 Jahre danach, nicht kommt.

In ihrem Buch, weist die Schriftstellerin Maissa Bey auf diese, eigentlich unerträgliche Situation hin, die ihr halbes Leben lang begleitet und sie benötigte „zwei Jahre, um diesen siebzigseitigen Text zu schreiben“.
2011 erhielt sie in Frankreich für ihre Arbeit den renommierten Preis „Officier des Arts et des Lettres“. In deutscher Übersetzung ist dies ihr zweites Buch, nach „Nachts unterm Jasmin“, welches ebenfalls im Verlag Donata Kinzelbach erschienen ist.

Im Nachwort gehen die Übersetzer Christine und Radouane Belakhdar nicht nur auf die Arbeit der Schriftstellerin Maissa Bey ein, sondern auch auf die aktuelle Situation im Maghreb und der arabischen Länder, deren Menschen plötzlich aus dem Schatten der Despoten herausgetreten sind und ihre Rechte und vor allem Würde und Demokratie fordern.

Man sollte das Buch zweimal lesen, einmal vor dem Nachwort und einmal danach, um es (evtl. als Außenstehender) ganz zu verstehen. Ein wichtiges Buch, für alle, die sich für die Geschichte Algeriens interessieren.

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