Alice im Wunderland

Lewis Carroll: Alice im Wunderland

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt

 

Was so eine Bootsfahrt auf der Themse im viktorianischen Zeitalter am 4. Juli 1862 so alles auslösen kann: in diesem Fall eines der berühmtesten Kinderbücher aller Zeiten generieren. Die großartige Geschichte von Alice im Wunderland wurde nämlich inspiriert von einer Liaison des Autors Lewis Carroll mit der jungen Dame Alice Liddell, die seinerzeit nicht nur gemeinsam Boot fuhren, sondern sich währenddessen auch Geschichten erzählten. Geschichten, die so erwärmend gewesen sind, dass die junge Alice den Erzähler bat, er möge sie doch bitte aufschreiben. Er tat wie geheißen und heraus kam Weltliteratur der ganz besonderen Art.

Lewis Carroll hieß eigentlich Charles Dodgson. Die Idee sich ein Autoren-Pseudonym zu wählen lag auf der Hand. Immerhin hießen vom Urgroßvater über den Großvater bis hin zum Vater und Carroll selbst alle männlichen Nachfolger Charles Dodgson – wie einfallsreich, könnte man spöttisch anmerken. Wie glücklich kann man dementsprechend sein, dass Charles der Vierte aus dieser konservativen Ödnis ausbrach und sich nicht nur einen neuen Namen zulegte, sondern gleich auch noch ein ganz neues Genre der Literatur entwickelte, die heutzutage mehr schlecht als recht als Nonsens-Literatur firmieren muss.

Dabei ist das alles andere als Nonsens, was Carroll der kleinen Alice widerfahren lässt. Vielmehr handelt es ich um vielschichtige Psychologie und feinsinnigen Humor gepaart mit hunderten Assoziationen, die eine ganze Reihe weiterer Künstler beeinflussen sollte. Ob James Joyce oder Max Ernst, ob Mark Twain oder Andre Breton: sie alle geben die Geschichte von Alice als eine ihrer Inspirationsquellen an.

Die Geschichte selbst kennt im wahrsten Sinne des Wortes fast jedes Kind: Alice schläft bei der Erzählung einer langweiligen Geschichte ein und sieht im Traum ein weißes Kaninchen, dem sie unter die Erde folgt. In diesem Wunderland operieren die seltsamsten Gestalten: sprechende Tiere, Gestalten, die wie Spielkarten aussehen und Herzkönig und Herzdame, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Die Grinsekatze, das weiße Kaninchen oder auch Huhka, die Wasserpfeife rauchende Raupe sind einige der interessantesten, die sich in vielerlei Hinsicht auch in der modernen Kultur niedergeschlagen haben.

Die Neuauflage bei Fischer Klassik besticht neben der Originalübersetzung von Antonie Zimmermann aus dem 19. Jahrhundert mit den Originalzeichnungen von John Tenniel, die auch heute noch den Inhalt kongenial unterstützen. Komplettiert wird diese Ausgabe von einem Eintrag des Kindler Literatur-Lexikons sowie einer Biographie Carrolls, in der man all die verrückten Stationen seines eigenen Lebensweges nachlesen darf.

Das ganze Werk strahlt eine kindliche Freude und zugleich eine intelligente Psychologie aus, das man sich gar nicht satt genug lesen kann. Bis heute gelten viele der Assoziationsketten Carrolls als unentschlüsselt, zahlreiche weitere wurden von Wissenschaftlern jedweder Art in mühsamer Kleinstarbeit dechiffriert; unter anderem die wohl parodistische Idee den Vogel Dodo als Abart seiner Selbst darzustellen. Carroll, der ja eigentlich Dodgson hieß, war Stotterer und stellte sich bisweilen als Do-Do-Dodgson vor. Nur eine von unglaublichen vielen interessanten Bezugsmomenten.

Fazit:

Eine fantastische Neuauflage eines noch fantastischeren (im wahrsten Sinne des Wortes) Buches. Es ist ein Kinderbuch und viel mehr. Es ist Grundlage verrückter Drogenphantasien, von Adventurespielen auf dem Computer, von Witz und Raffinesse, von schelmischer Intelligenz und liebevoller Naivität. Der Nachfolge Alice hinter den Spiegeln ist ähnlich verrückt, erreicht aber nicht mehr ganz die Popularität und Kraft des Erstlings. Kein Wunder, denn so schön, so verrückt und so herzerwärmend geistreich kann ein Ausflug in andere Welten nie mehr sein. Wer auch nur für einen Moment der biederen Bürgerlichkeit und der Alltagsfixierung entkommen möchte, der sei hiermit herzlich dazu eingeladen.

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