Das Dorf der Wunder von Roy Jacobsen
Inhalt
Bei Minus 40 Grad Celsius im finnischen Winter denkt man an Saunagänge, Wintersport und vielleicht noch romantische Schlittenfahrten. Aber nicht an Krieg. Den sowjetischen Diktator Josef Stalin und seine Armeeführung interessierten die äußeren Umstände jedoch nicht. Nachdem sich Deutschland und die Sowjetunion das polnische Territorium geteilt hatten, lässt Stalin die Rote Armee im Winter 1939 gegen Finnland marschieren. Das Land gilt als strategisch wichtig, Stalin sieht in Finnland die mögliche Ausgangsbasis für Luftangriffe auf sowjetisches Territorium.
Sturer Holzfäller bleibt im Dorf
Timo Vatanen ist ein leutseliger, mit stoischer Ruhe ausgestatteter Holzfäller. Und er ist der einzige Einwohner in seinem Heimatort Suomussalmi in Mittelfinnland, der nicht vor den Russen flieht, sondern in aller Seelenruhe auf die heranrückenden Truppen wartet. Die Einwohner von Suomussalmi brennen ihre Häuser wie von der Armee befohlen nieder, bevor sie ihre Heimat verlassen, damit der Feind sie nicht besetzen kann. Der einfältige Holzfäller Timo kann sich damit nicht abfinden. Nachdem er einen Offizier überredet hat, ihn im Dorf bleiben zu lassen, macht er sich daran, einige Häuser zu retten. Nachdem alle abgezogen sind, wartet er im Wald das Ende der Brände ab, um sich dann in einem der geretteten Gebäude – es gehört dem Krämer Antti – häuslich einzurichten.
Als die Russen Suomussalmi besetzen, wissen sie nicht so recht, was sie mit Timo anfangen sollen. Er bietet seine Dienste als Holzfäller an, denn auch die Soldaten brauchen jede Menge Brennstoff. In dem von ihm reparierten Haus richten sich russische Offiziere ein – bis ihnen der Beschuss durch die Finnen zu gefährlich wird, und sie in einen Erdbunker umziehen. Timo ist ein „sturer Hund“ und arbeitet beharrlich darauf hin, in das Haus zurückkehren zu können.
Sonderling und Überlebenskünstler
Der große Vorteil dieses Sonderlings ist, dass er genau weiß, wie man im eisigen finnischen Winter überlebt. Und so wird er eher zufällig vom unbeholfenen Außenseiter zum Retter einiger Zwangsarbeiter und einfacher Soldaten – und leistet seine Form von Widerstand. Timo wird nämlich zum Leiter einer Holzfällertruppe, die zunächst von russischer Infanterie bewacht wird, aber nach herben Verlusten lässt man den Finnen mit seiner Handvoll Holzfäller alleine in den Wald ziehen. Bald spielen Nationalitäten keine Rolle mehr – eine kleine Oase bildet sich in den Wirren des Krieges.
Retter in der Zeit der Not
Während die russischen Truppen von den Finnen immer mehr zusammengeschossen und dezimiert werden, gelingt es Timo, seine Holzfäller am Leben zu erhalten. Schließlich werden sie von finnischen Truppen gefunden, zu einem Zeitpunkt, da sie mit dem Leben längst abgeschlossen haben. Nach kurzer Zeit der Trennung treffen sich alle wieder, und werden unter neuer Leitung abermals zum Holzfällen eingesetzt. Nach einiger Zeit nutzt Timo die relative Freiheit, die er genießt, und führt die Gruppe fort aus Suomussalmi und auf seinen verlassenen Elternhof. Von dort zerstreut sich die Truppe – zwei jüdische Gefangene machen sich nach Norwegen auf den Weg, zwei Russen wollen zurück in ihr Land. Und einer ist auf dem Hof gestorben und begraben.
Lange nach dem Krieg wird die Schlacht von Suomussalmi als taktisches Meisterstück gefeiert. Timo findet in Zeitungen einige Nachrichten über das Schicksal seiner Holzfäller. Als er jedoch mit anderen darüber redet, will oder kann sich niemand mehr erinnern. Man glaubt ihm nicht. Verbittert zieht er sich auf seinen Hof zurück – wo er 27 Jahre nach dem Winterkrieg stirbt.
Der Autor
Roy Jacobsen, geboren 1954, debütierte 1982 mit der Novellensammlung „Fangeliv“. Zuletzt erschienen „Frost“ (2003) und „Marions slor“ (2007). Er hat Romane, Novellen und Kinderbücher veröffentlicht und gehört heute zu den bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellern Norwegens. Jacobsens Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. „Das Dorf der Wunder stand“ 2009 auf der Shortlist des International IMPAC Dublin Literary Award.
Fazit
Roy Jacobsens Roman ist eingebettet in die Geschichte des so genannten Winterkrieges, in dem sich eine unterlegene finnische Armee gegen den Angriff der Sowjetunion zu Wehr setzt. Der Autor erzählt eine Geschichte vom Leben und Überleben im Krieg und von ganz gewöhnlichen Menschen, die in ihn hineingezogen werden, obwohl sie ihn weder gewollt haben noch seine Ursachen verstehen. Es ist die Geschichte eines Mannes, der wider Willen zum tragischen Helden wird, weil seine angeborene Sturheit es ihm absolut unmöglich machen, irgendwo anders zu leben als in seinem Geburtsort. Wie bei allen Geschichten, die im Krieg spielen, gibt es auch hier mehrere Wahrheiten. Timo hat sich immer nur so verhalten, wie es für ihn normal und natürlich erschien. Nach dem Krieg wollen aber viele Menschen die Ereignisse anders oder gar nicht sehen.
Der Roman zeichnet ein feinfühliges Bild dieses Sonderlings, der zufällig zum Helden wird, ohne über die Konsequenzen seiner Handlungen nachzudenken. Einen Typ wie Timo Vatanen gibt es in nahezu jeder dörflichen Umgebung. Einfältig, stur bis zum Ende, bauernschlau – und dadurch irgendwie liebenswert. Ein Mann der wenigen Worte, unverstellt, direkt und dadurch im Krieg ständig gefährdet. Eine lesenswerte Erzählung über pure Mitmenschlichkeit in der klirrenden Kälte des finnischen Kriegsschauplatzes.