Gerald Hüther: Das Geheimnis der ersten neun Monate: Unsere frühesten Prägungen
Leben von Anfang an
Gerald Hüther ist nicht nur der renommierteste Hirnforscher Deutschlands, er ist auch ein sehr kompetenter und charismatischer Autor. Seine Bücher bringen seit vielen Jahren die faszinierenden Erkenntnisse der Neurobiologie auf ein verständliches Niveau. Unterstützt wird dieses wissenschaftlich faszinierende Interessengebiet von einer sehr intuitiven, empathischen und fast schon weisen Ansicht des Lebens selbst. Abseits von Schulmechanik und Wissenschaftshörigkeit setzt Hüther die mahnenden Fragezeichen an den entsprechenden Stellen. Auch in diesem sehr gelungenen Abriss über die Embryo-Entwicklung in der Schwangerschaft.
Doch zunächst zur groben Übersicht: Gut 150 Seiten stark und in angenehmer Schriftgröße präsentiert und argumentiert Hüther auf allerhöchstem naturwissenschaftlichen Niveau. Er bringt geisteswissenschaftliche Anleihen der Anthropologie, der Ethnologie, der Soziologie oder der Psychologie ein und versäumt es auch nicht, menschengerecht in den Bereich der Philosophie zu driften, in dem es um Sinnfragen geht, die bei aller nüchterner Methodik eine große Rolle spielen. Wenn man so will, ist Hüther die Symbiose eines wirklich aufgeklärten Wissenschaftlers, die im Übrigen ja das genaue Gegenteil sein sollte, was man gemeinhin unter dem Begriff Aufklärung und deren Folgen versteht.
Der Blick von dort auf die Geburt zu richten, ist nicht so neu, wie das vielleicht der Umschlagtext vermitteln will. Es sind immerhin bewiesene Fakten, die der naturnahe Mensch schon seit langem gewusst hat; wie extrem und detailliert das aber funktioniert und wie das alles neurobiologisch nachgewiesen werden kann, dass fasst Hüther hier zusammen. Stimmungen, Sinneseindrücke, Kommunikationsfähigkeiten, Lernsysteme, Reflexbewegungen: all das, was abseits genetischer Merkmale vielen erst ab der Geburt als Entwicklungsschritt möglich erscheint, stellt Hüther als notwendigen und natürlichen Teil im Rahmen der Embryoentwicklung vor.
Andererseits könnten man sich natürlich auch fragen: wie weit sind wir denn eigentlich, dass wir seit vielen Jahrhunderten wissen, wie dieser Embryo aussieht – nämlich wie ein Mensch! – und trotzdem solcherart Beweis brauchen, um uns einzugestehen, wie das Leben funktioniert. Toll ist besonders das Ende, in dem Hüther eben diesen Art Fragen nachgeht und sie – großen Respekt dafür – negativ beantwortet. Seine Conclusio: so wie Welt momentan funktioniert, kann und darf man nicht davon ausgehen, dass sich humanitäreres, sozial gerechtes oder biologisch notwendiges Verhalten in unserer Spezies durchsetzt. Wow, das sind eigentlich logische, dennoch umso seltenere Aussagen.
Und doch macht diese Schrift Mut, ganz viel Mut. Sich auf das wider einzulassen, was wir spüren. Auf Zartgefühl, auf Sanftmut, auf Intuition, auf Kommunikation ohne Wörter, auf Gefühle mit Raum und Form, auf Lebendigkeit im umfassenden Sinne. Werdende Eltern aber auch Psychologen und Ratsuchende dürfen sich an diesem Mix hilfreicher Hinweise bedienen.
Fazit:
Würde sich Hüther für die Zukunft noch angewöhnen, den Begriff Gehirn mit Nervensystem auszutauschen und auch dahinter noch einmal die nicht messbare Lebenskraft deutlicher herausstreichen, es wäre noch wertvoller. Doch das sind Klagen auf hohem Niveau. Diese Mischung aus naturwissenschaftlichem Fundament und lebensgerechter Hinwendung ist so selten in der wissenschaftlichen und literarischen Welt anzutreffen, dass Hüther ein ganz besonderes und wohltuendes Exemplar am Himmel der Naturwissenschaftler bleibt.