Der Dichter

Yi Munyol: Der Dichter

Eigentlich ist Der Dichter kein historischer Roman, auch wenn Yi Munyol aus dem Leben einer historischen Person erzählt. Der Autor, der stets ein wenig mehr über das Leben Kim Sakkats zu wissen scheint als das, was die zahllosen Legenden überliefern, nutzt seinen Roman als Vehikel für eine Reihe von Reflektionen über Loyalitätskonflikte, das Dichten an sich, über die Natur des Künstlers, über den Einfluss äußerer leidvoller Umstände auf einen Künstler und so weiter. Es scheint fast, als plaudere Yi Munyol mit dem Leser, man glaubt, ein Glas Wein auf dem Tisch stehen zu sehen, aber Yi verlangt dem Leser doch sehr viel ab. Er stürzt ihn kopfüber in ein Korea des 19. Jahrhunderts mit so ganz anderen Werten, Normen und Verhaltensmustern, ohne etwas zu erklären, das Fremde bleibt uns zunächst einmal fremd. Yi diskutiert grundlegende Fragen an, geht dann leichtfüßig weiter, im Plauderton, und lässt uns nachdenklich zurück.

Inhalt

Die Geschichte beginnt mit einer Flucht. 1811, Kim Byong-yon, der später den Künstlernamen Kim Sakkat nach dem breitrandigen Strohhut führen wird, der immer sein Gesicht beschattet, ist fünf Jahre alt. Der Vater vertraut ihn und seinen siebenjährigen Bruder einem Sklaven an, der sie als  Söhne eines armen Bauern auf dem Land verstecken soll, um ihr Leben zu retten. Die Zeit im Luxus eines adligen Haushaltes in Seoul ist für immer vorbei. Die Kinder sind, genau wie ihre Eltern, in Lebensgefahr, denn sie haben sich eines entsetzlichen Verbrechens schuldig gemacht: Sie sind „Abkömmlinge eines Verräters“. Jeder, der später von dieser Familiengeschichte erfährt, wendet sich schaudernd ab oder jagt die erblich so Belasteten davon.

Es war zu einem Aufstand gegen den König gekommen, in der fernen Provinz, der sich der Kommandant der Stadt Pyongan angeschlossen hatte, der Großvater der Kinder. Der Aufstand wird niedergeschlagen und über die Familie bis ins dritte Glied zuerst die Todesstrafe, dann gnadenhalber die Ächtung verhängt. Die nach Jahren wiedervereinte Familie steigt vom Hochadel ins Proletariat ab. Alle Versuche, ihren alten Status wiederzugewinnen, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, selbst nach der Begnadigung ist der „Rachedurst des Systems“ nicht zu überwinden. Der Vater, der durch strikteste Untertanentreue und Konformität versucht, die Ehre der Familie wieder herzustellen, stirbt kaum 30jährig an Tuberkulose. Der älteste Sohn geht einen anderen Weg, er versucht, sein Schicksal anzunehmen und als Bauer und Markthändler nicht mehr der Vergangenheit nachzutrauern. Vergessen erlangen kann er das nur durch exzessives Trinken, auch er stirbt früh.

Die ehrgeizige Mutter sieht in der Bildung ihres zweiten Sohnes das einzige Mittel zum Wiederaufstieg. Byong-yon muss lernen, lernen, lernen, denn „Lernen ist der Schlüssel zur Macht“ , so belehrt ihn seine Mutter. Zu den unverzichtbaren Disziplinen höherer Bildung gehört die Dichtkunst und hier zeigt der 18jährige eine ganz besondere Begabung. Bei einem Dichterwettstreit erringt er – was sonst – den ersten Platz. Aufgabe war ein formell eng gefasstes, patriotisches Gedicht auf genau jenen Aufstand, der das Schicksal der Familie besiegelt hatte. Byong-yon taucht nicht mehr auf, die Scham hält ihn davon ab. Die Scham, der Abkömmling eines Verräters zu sein? Oder die Scham, für den Erfolg die Loyalität zur Familie unterlassen zu haben, seinen Großvater verraten zu haben?

Aus der Ambivalenz, dem inneren Konflikt kann sich der junge Dichter nicht befreien. Der Konfuzianismus verlangt die Treue dem König gegenüber, ebenso wie die Demut gegenüber den Vorfahren. Wenn beide Regeln aber nicht gleichermaßen befolgt werden können – welche Regel ist dann verpflichtender? Wie er sich auch entscheidet, der Dichter kann den Regeln des Konfuzianismus nicht genüge tun. Er ist und bleibt ein Außenseiter.

Mehr und mehr löst Byong-yon sich aus der Gesellschaft und wird zum rast- und heimatlosen Wanderer, nur seiner Kunst verpflichtet, das Gesicht immer beschattet von seinem Hut. Yi Munyol zeichnet die Entwicklung der Dichtkunst in den 30 Jahre Wanderschaft nach, vom erst noch der Tradition verpflichteten, kunstvollen Gedichten, die auch zur Ablegung der Staatsprüfungen geeignet wären bis hin zu galligen Spottgedichten, die Kim Sakkat schreibt, als er die Armen und ihr Leben kennenlernt und sehr freien Liebesgedichten. Dann wieder schreibt er revolutionäre Lyrik, als er unter Aufständischen lebt und letztlich Naturlyrik.

Kim Sakkat weigert sich, seinem Sohn nach Hause zu folgen. Er bleibt der wandernde Dichter, gelöst aus allen Konventionen, der vielleicht erste „moderne“ Künstler Koreas.

Der Autor

Das Schicksal, in Sippenhaft für etwas leiden zu müssen, an dem man selbst keine Schuld trägt, ist auch dem 65jährigenYi Munyol bekannt. Sein Vater lief während des Koreakrieges zu den Kommunisten im Norden über und machte so aus seinem Sohn auch einen „Abkömmling eines Verräters“, einen Außenseiter. Diese Erfahrung fließt in den Roman mit ein, auch wenn Yi, so sagt er in einem Interview, sich nicht völlig mit Kim Sakkat identifiziert. Yi Munyol gehört zu den profiliertesten zeitgenössischen Autoren Koreas, einige seiner Bücher sind bereits ins Deutsche übersetzt. Dass der Leser endlich auch diesen Roman aus dem Jahr 1987 auf Deutsch lesen kann, noch dazu in einer hervorragenden Übersetzung, ist ein Highlight, dem Suhrkamp Verlag zu danken..

Fazit

Leicht zu lesen – aber keine leichte Lektüre.

 

Schreibe einen Kommentar