Hernán Rivera Letelier: Die Filmerzählerin
Inhalt
In der Atacama-Wüste im Norden Chiles wurde bis in die 60er Jahre Salpeter abgebaut, der in der Düngemittelindustrie Verwendung fand. Die Bergarbeitersiedlungen in der Wüste waren mit das Trostloseste, was man sich vorstellen kann, nicht selten regnete es mehrere Jahre hintereinander überhaupt nicht. Für die armen „Kumpels“ gab es kaum eine Möglichkeit der Zerstreuung, einzig das Kino bot Abwechslung. Kino ist eigentlich nicht die richtige Bezeichnung für die auf eine weißen Wand projizierten Hollywood-Produktionen oder mexikanischen Melodramen, nicht selten musste man den betrunkenen Filmvorführer zu seiner Arbeit tragen, manchmal vertauschte er die Reihenfolge der Filmrollen. Aber das bedeutete nicht, dass die bunten Bilder nicht geliebt wurden.
María Magarita liebt sie wie jeder andere auch und da ihre Familie sich sechs Kinokarten nicht leisten kann, muss jedes Kind den Film, den er oder sie gesehen hat, den anderen erzählen. María kann das am besten. Ihre Erzählungen sind nicht selten aufregender als der Film, sie singt und tanzt die entsprechenden Szenen der Filme nach, sie sammelt Requisiten und Verkleidungen und wird immer besser im „Nachempfinden“ der Filme. Das merkt bald nicht nur die Familie. Immer mehr Gäste sammeln sich im Zimmer der Familie und hören zu, der Vater nimmt Eintritt und ein neuer Beruf ist geboren. Endlich einmal geht es der Familie etwas besser, bisher war sie nicht vom Glück verwöhnt. Der Vater ist seit einem Arbeistunfall gelähmt, die Mutter hat auf der Suche nach einem besseren Leben die Familie verlassen und die zehnjährige María und ihre vier älteren Brüder leben am Rande des Elends.
Aber dem Elend kann man offensichtlich nicht entkommen. Die Glücksmomente sind nur kurze Unterbrechungen. María übernimmt auch Hausbesuche als Filmerzählerin, meist für Alte und Kranke, die nicht mehr ins Kino gehen können. Als sie einen Hausbesuch beim Verwalter der Mine macht, vergewaltigt der sie. Danach ist nichts mehr so wie es war. Marías kurze Karriere als Filmerzählerin endet mit dem Auftauchen des ersten Fernsehers in der Minensiedlung.
Der Autor
Der Chilene ist selbst in einer Bergarbeitersiedlung in der Atacama-Wüste aufgewachsen. Er gehörte zu den wenigen, die die Werksbibliothek regelmäßig besuchten, Geschichten begeisterten ihn schon immer. Als in einem Schreibwettbewerb als erster Preis ein Abendessen ausgelobt wurde, beteiligte sich der hungrige Hernán Letelier mit einem Liebesgedicht – und gewann den ersten Preis. Seither schreibt er.
Fazit
So trist die Zusammenfassung klingt, so wenig traurig ist das dünne Buch. Hernán Letelier beschreibt seine Protagonisten mit viel Humor, mit einem ausgeprägten Sinn für stille Komik und mit einer großen Liebe für Geschichten, Geschichtenerzählen und für das Kino. Der Autor beobachtet genau und formuliert präzise. Das kaum mehr als hundert Seiten starke Buch ist schnell gelesen, was Spaß macht, auch wenn die Menschen, die Hernán Letelier vorstellt, keine Chance auf Glück haben.