Florian Illies: 1913

Inhaltsverzeichnis
Musik

Saltatio Mortis – Finsterwacht

Musik

Daryl Hall – D

Klassik

Stephan Moccio – Legends, Myths And Lavender

Florian Illies: 1913

Das beste Dream-Team aller Zeiten

Florian Illies ist lange nach seinem Bestseller Generation Golf wieder mal ein echtes Schmankerl gelungen – 1913 ist auch als Hörbuch eine facettenreiche, witzige, bisweilen groteske Kulturstudie, die ähnlich wie des Autors Kassenschlager Geschichte, Kulturwissenschaft und subjektives Empfinden in einen kongruenten Kontext stellt. Der Journalist und Autor, der für FAZ und Die Zeit geschrieben hat, hat ein ausgewiesenes Faible für kulturhistorische Belange, nicht umsonst ist er der Spross eines angesehenen Akademikers und studierte selbst eifrig in Bonn neuere Geschichte und Kunsthistorie.

Die Informationen daraus verwendet er zuhauf in dem neuesten Werk, das sich einem einzigen Jahr in der Weltgeschichte – Einspruch: der abendländischen Kulturgeschichte mit Blick auf deren künstlerische Hochburgen Berlin, Wien und Paris – widmet, dem Jahr 1913. Wer marginale Geschichtskenntnisse mitbringt, weiß so gerade noch, dass das ja eigentlich nur das letzte Jahr des Friedens war, bevor es 1914 zum eruptiven Ausbruch menschlicher Aggressionsphänomene im ersten Weltkrieg kam.

Das Buch beginnt, ganz modern und unbiologisch, mit dem Glockenschlag um Zwölf, mit dem synthetisch getakteten Übergang ins neue Jahr. Louis Armstrong, der spätere Trompetengott, ist der erste einer illustren Promientenschar, die Illies gemeinsam an den Start schickt. Armstrong war damals noch ein Kind und begrüßte mit einer Pistole – zum Spaß – das neue Jahr. Aus dem Spaß wurde ernst und Armstrong in eine Besserungsanstalt geschickt, in der man ihm, um ihn endlich ruhig zu stellen, eine Trompete gab – der Beginn einer außergewöhnlichen Karriere.

So ziemlich jeder Künstler, Wissenschaftler und Politiker, der im Nachhinein Bedeutung erlangt hat und damals gelebt hat, geboren oder geliebt wurde, wird anschließend von Illies integriert. Nicht in einer sinnfreien Aufzählung, sondern in einer verschachtelten Mehrfachkomposition von Begegnungen und Konfrontationen. Der Großteil jener Hintergründe ist – da ist Illies ganz dem wissenschaftlichen Diktat verschrieben – authentisch und nicht bloßes Fabulieren.

Kafkas Beziehung zu Felice Bauer, die illustre Zuschauerrunde (Coco Chanel, Claude Debussy, Marcel Duchamps) bei Strawinskys Uraufführung im Champs-Élysées oder die verstörende Leidenschaft der Künstler Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler zueinander sind nur einige der zahleichen Übereinstimmungen. Hintergrund ist eine Verwandlung, ein Aufbruch in die Moderne, den Illies, vor allen Dingen in den Werken der Kunst, aber auch in den in die entgegengesetzte Richtung zielenden politischen Extremen ausmachen kann: Pablo Picasso, Thomas Mann, Sigmund Freud , Rudolf Steiner, Franz Marc und auch Peter Frankenfeld und Gert Fröbe (die beide 1913 geboren werden und qua entbundenere Nabelschnur Teil des konspirativen Schaffens sind) werden eingeladen. Und viele, viele mehr – bitte treten sie ein für das Jahr ihres Lebens.

Natürlich ist Geschichte subjektiv, nach Hayden White logisch nachvollziehbar immer nur erfunden und mittels des persönlichen Schreibstils des Autors geschaffen. Doch gelingt Illies dieser Spagat hervorragend – die Charaktere sind lebendig, spritzig, auch melancholisch und verrückt, aber immer Teil des Gesamten mit dem schönen Raum für die individuelle Note.

Auch die Umsetzung ins Hörbuchformat vom Audio Verlag ist gelungen. Da stimmen das Layout (expressionistische Gestaltung, integrierte Originalfotografien, anwendungsfreundliches Slimcase) und der Sprecher, dem eine gewisse historische Nüchternheit nicht abzusprechen ist. Vielleicht ist es ganz gut, dass Stephan Schad den Blick von außen so konsequent beibehält und nur dezent mit Stimme und Modulation arbeitet – er überlässt das Feld den zahlreichen Heldinnen und Helden jener Zeit.

Fazit:

Ein informatives und unterhaltsames Hörbuch. Ob dieser Einschnitt historisch so bedeutend war, wie Illies ihn herausstellt, ist am Ende zweitrangig, denn dem Leser und Hörer wird erstaunlich einfach bewusst, wie elementar Wirklichkeit durch die Perspektive beeinflusst wird. Und wie wunderbar es ist, wenn einem ein frei (!) schaffender Künstler die Möglichkeit schenkt, mit ihm durch alle Zeiten zu reisen. Als Teil der Geschichte selbst.

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