Rudyard Kipling: Kim
Indien in der Kolonialzeit
1901 war die Welt noch in Ordnung. Zumindest wenn man es aus Sicht imperialistischer Politiker und europäischen Großherrschaftsdenken betrachtet. Nicht nur in Indien, dem Schauplatz dieses berühmten Romans, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt besetzten Kolonialmächte exotischen Grund und Boden (und damit auch die Menschen, die dort lebten) und fühlten sich nolens volens als Könige des Erdballs. Auch Rudyard Kipling, dem Autor und ersten britischen Nobelpreisträger der Geschichte, wird so manches Fremdenfeindliche und Usurpatorische zur Last gelegt. Auch in dem 1901 erschienen und jetzt bei Fischer wieder einmal neu aufgelegten Meisterwerk des irischen Waisenjungens Kim.
Wie so oft und so naheliegend bei Kindern, die ohne ihre leiblichen Eltern aufwachsen und nicht einmal wissen, wo sie herkommen, ist das Erspüren und Entdecken der eigenen Identität die zentrale Aufgabe ihres Lebens. Wer anders als ein tibetischer Lama würde besser passen, um die freundliche Hauptperson auf der Suche zu begleiten, die ihm – die Handlung ganz kurz zusammen gefasst – zur Erkenntnis seiner eigenen britischen Herkunft führt und ihn, so will es das goldene Ende, in den britischen Geheimdienst aufsteigen lässt. So kurz, so gut. Doch was wirklich Goldene und Erwärmende dieses Textes ist selbstredend die Odyssee der beiden Protagonisten durch dieses bunte und verrückte Land.
Noch heute werden zahlreiche Aussteiger sich an diesem Roman erfreuen können, denn traditionell hat sich im Vergleich zu damals wenig geändert. Letzteres bezieht sich vor allem auf die Religion, im politischen Sinne ist natürlich mittlerweile Unabhängigkeit im Staate Indien angesagt. Genau das führt uns wieder zum Ausgangspunkt, nämlich die pro-imperialistischen Tendenzen, die diesem Jugendbuch, welches ein Erwachsenenbuch ist, nachgesagt werden. Da hilft es vielleicht, Gnade vor Recht gelten zu lassen und sich zu vergegenwärtigen, dass Kipling neben Kim auch für das Wunderwerk Dschungelbuch verantwortlich ist (oder ist das nur so gut wegen dem Zeichentrickfilm?). Welcher Mensch des späten 19. Jahrhunderts, der wie Kipling selbst als Kolonialkind in Indien geboren wurde, konnte denn überhaupt so weit denken? Das mag die Sache nicht entschuldigen, aber zumindest erklären, warum eben die Usurpatoren, die Unterdrücker, sprich also die Engländer, in diesem Buch relativ gut bis honorierend wegkommen.
Besonders erfreulich und einer Neuausgabe würdig ist der fulminante Anhang mit sehr vielen, guten und interessanten Anmerkungen, mit einer Kurzbiographie des Autors, seinen weiteren Werken und nicht zuletzt einer ausführlichen und kritischen Darstellung eben jener Rezeption, die auch in dieser Rezension kurz vorgestellt wurde. Das macht das Buch sehr rund.
Fazit:
Ein Klassiker in schöner und sehr aufgeklärter Neuaufmachung. Ein Jugendbuch, das Erwachsene in den Bann zieht. Ein Land, das so bunt und vielschichtig und spirituell ist, wie keines in Europa. Und eine Kontroverse, die man bedenken, aber nicht als Werturteil dieses Romans in den Vordergrund stellen sollte.