Knapp am Herz vorbei

J.R.Moerhinger: Knapp am Herz vorbei

Heros der Panzerknacker

Verbrecher haben etwas Faszinierendes. Freilich, je grausamer der Gewalttäter war, umso geringer ist die kollektive Faszination, umso schrecklicher die Warnungen. Man denke an die irren Nazi-Granden, vergesse aber auch nicht, dass sie noch heuer eine ebenso irre Klientel zu interessieren pflegen. Und da sind auch die zahlreichen, fiktiven Anti-Helden, hin- und hergerissen zwischen Legalität und dem eigenen Herz. Wer fühlt sich nicht hingezogen zu demjenigen, der Spießertum und politische Trägheit umgeht, der sich für Freiheit – wenn auch nicht immer mit legalen Mitteln – einsetzt. Vorbild all dieser Revolutionäre, na klar, the man from Nottingham Forrest: Robin Hood.

Dies soll selbstredend kein Freibrief zum Kleinkriminellentum sein, sondern euphorisch auf ein tolles Buch hinweisen, welches die Geschichte eines sympathischen Verbrechers des 20. Jahrhunderts erzählt. In Amerika so oder so eine Legende, ist Willie Sutton den meisten Mitteleuropäern nur dann ein Begriff, wenn sie schon vor vierzig Jahren Interesse an Trivialjournalismus hatten. 1969, an Weihnachten obendrein, wurde nämlich der berühmteste Verbrecher Amerikas aus dem Attica-State-Gefängnis nach 17 Jahren Haft entlassen. Genau hier beginnt das Buch, indem es das Medieninteresse dokumentiert und mit einem Reporter des Life-Magazins einen Souffleur schafft, dem Sutton seine Biographie erzählt.

Und wie toll sie ist, diese Biographie. Dieser amerikanische Weg des Mannes aus Brooklyn, mit Baseball, Bankraub und Boogie Woogie. Warum sich das bis jetzt alles so spaßig, so nach Kindergeburtstag anhört, wird mancher fragen. Immerhin hat der gute Sutton von den 1920ern bis zu seiner Verhaftung 1952 mehr als 200 Banken ausgeraubt. Mit Schusswaffen! Tja, wie Sutton selbst vor seinem Tod 1980 noch einmal deutlich erklärte: Die Pistolen waren niemals geladen, er wollte ja niemanden verletzten; und wenn Frauen schrien oder Babys weinten wurde die Aktion sowieso abgeblasen. Klingt pathetisch, klingt nach dem modernen Robin Hood – nun, Buch lesen und staunen: er ist es vielleicht auch.

Was macht Moehringer? Er schreibt ein persönliches Vorwort an seine deutschen Leser, biedert sich ein wenig bei den Buchhändlern an, die er für ganz tolle Leute hält und rast wie ehedem durch seine Zeilen. Wozu Artikel sowie Personal- oder Demonstrativpronomen, wenn man doch ohne viel Gerede ins Herz des Romans kommt: in die kulturelle Grandezza des Großverbrechers, in seine Liebe zu den Büchern, seine Begierde nach Platon, Shakespeare, Dante und Kerouac (und Freud, dem sie ihm aber im Gefängnis weggenommen haben), gepaart mit den Reminiszenzen an Millionen Dollar Diebesbeute, Prohibitionen und Suttons große Liebe mit dem Namen Bess.

Das Einzige, was an diesem Roman stört ist der deutsche Titel: Knapp am Herz vorbei hört sich ja an wie ein schauriger Gesellschaftsroman der 1960er Jahre oder die tausendste Enttäuschung der hedonistischen Moderne. Somit der Aufruf an alle: Bitte diesen Titel vergessen, streichen, so tun, als ob es ihn niemals gegeben hätte. Das Original heißt Sutton. Und Sutton ist ein Original, genau wie dieses quasi biographische Buch. Ein herrliches, fesselndes, spannendes und humorvolles Werk – will man denn mehr?

Fazit:

Die Seiten verfliegen beim Lesen, das Herz wird weit, der Mund breit und manchmal geht er auf: Oh und Ah und Ach war das schön und was es damals noch alles gab. Gut gemacht Mister Moehringer – das Buch wird ein Klassiker, wie der Protagonist es bereits ist. Lesen, Kino, Football, Zigaretten und Banken ohne Gewalt ausrauben – dürfen Kinder das jetzt nachmachen? Kann ja jeder selbst entscheiden, der das Buch gelesen hat.

 

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