Kolyma von Tom Rob Smith
Inhalt
Im Moskau des Jahres 1956 wird der ehemalige MGB-Offizier Leo Demidow erneut von seiner Vergangenheit eingeholt. Nachdem er wenige Jahre zuvor eine mysteriöse Mordserie an Kindern aufgeklärt hat, gelang es ihm, trotz der Skepsis des MGB und der russischen Miliz, sein eigenes Morddezernat aufzubauen, wo er fortan damit beschäftigt ist, „wahre“ Verbrecher zur Strecke zu bringen anstatt unschuldige Menschen, die nicht konform mit dem kommunistischen System der Sowjetunion gehen, zu foltern und umzubringen.
Doch nun wird eine von Leos Adoptivtöchtern gekidnappt, und Leo hat nur eine Option, um seine Adoptivtochter wieder freizubekommen. Die Verbrecherbande, die Leos Tochter Zoya entführt haben, verlangen von Leo, dass dieser einen inhaftierten Priester aus einem Gulag befreit, damit seine Adoptivtochter wieder freigelassen wird. Doch das Lager in Kolyma, in dem der Priester inhaftiert ist, gilt als eines der schlimmsten Arbeitslager in der gesamten Sowjetunion. Und die Tatsache, dass Leo den inhaftierten Priester einst selbst denunziert hat, um seine eigene Karriere voranzutreiben, macht das ganze Vorhaben nicht gerade einfacher…
Eine stimmige Fortsetzung von „Kind 44“, die jedoch leider nicht ganz das Niveau ihres Vorgängers erreicht
Die Figur des Leo Demidow wird vielen Lesern und Hörern von „Kolyma“ bereits aus „Kind 44“ bekannt sein. Mit der Figur des kritischen MGB-Offiziers Leo schuf der amerikanische Schriftsteller Tom Rob Smith einen Antihelden, der im deutlichen Widerspruch zu den sonstigen „Helden“ und Ermittlern des Thrillergenres steht. Leo Demidow taugt nicht einmal im entferntesten zur Identifikationsfigur, ist er doch ein MGB-Agent, der zwar nicht zuletzt auch mangels Alternativen zum berüchtigten MGB gegangen ist, letztlich jedoch auch in aller Regel keinen Anstoß an seiner eigenen Tätigkeit genommen hat und für seinen eigenen Aufstieg und die Karriere zahlreiche unschuldige Menschen gefoltert, inhaftiert und ermordet hat.
„Kolyma“ knüpft direkt an „Kind 44“ an, allerdings haben sich die Protagonisten in „Kolyma“ weiterentwickelt und in der Zwischenzeit haben sich im Leben von Leo Demidow und seiner Frau Raisa einige Änderungen ergeben, die dafür sorgen, dass Leo seine eigene Vergangenheit trotz aller Bemühungen nie ganz loslassen und erst recht nicht vergessen kann. Nachdem er selbst den Tod der leiblichen Eltern von Zoya und Elena, der beiden Mädchen, die Leo und Raisa inzwischen adoptiert haben, mitverschuldet hat, fragt er sich immer wieder, welche Daseinsberechtigung der MGB überhaupt hat und das komplexe und von Spannungen überschattete Verhältnis zu seiner Adoptivtochter Zoya sorgt bei Leo dafür, dass er es immer mehr als gegeben voraussetzt, dass er die Geister aus seiner Vergangenheit wohl nie ganz loswerden wird.
Während „Kind 44“ sowohl durch eine fesselnde und durchdachte Rahmenhandlung als auch durch eine dichte Atmosphäre und eine überzeugende Schilderung der sozialen und gesellschaftlichen Milieus und Missstände innerhalb der Sowjetunion überzeugen konnte, konzentriert sich Tom Rob Smith in „Kolyma“ im Wesentlichen auf die Beschreibung der politischen Spannungen und Umwälzungen, die sich durch den Tod von Stalin und durch eine umstrittene Rede des neuen Regierungsoberhauptes der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, nunmehr nicht nur in der Sowjetunion selbst, sondern auch in den sogenannten „kommunistischen Bruderstaaten“ Bahn brechen.
Das ist schade, denn so entsteht leider an vielen Stellen der Eindruck, dass Tom Rob Smith mit „Kolyma“ möglichst schnell an den Erfolg von „Kind 44“ anknüpfen wollte, ohne sich für die Fortsetzung die nötige Zeit zu nehmen. Die Schilderung der gesellschaftlichen Entwicklungen und Umwälzungen ist ihm dabei zwar sogar oftmals noch besser gelungen als in seinem Debütroman, dies geht jedoch auf Kosten des Handlungsverlaufs. Die Geschichte beginnt dabei zwar nicht minder spannend als in „Kind 44“, dümpelt dann jedoch leider immer mehr dahin, und nach dem Anhören der 6 CDs fragt man sich, wieso sich die Geschichte am Ende derart konfus entwickelt, dass das Ende in gewisser Weise „unvollständig“ und deshalb auch nur bedingt glaubwürdig daherkommt.
Der „Vorleser“ Bernd Michael Lade, der den Zuhörer durch „Kolyma“ führt, holt dabei zwar noch das beste aus der zugegebenermaßen teilweise doch sehr dürftigen Geschichte heraus und beschwört eine fesselnde Atmosphäre herauf, doch über die Schwächen in der Handlung von „Kolyma“ kann dies leider nicht hinwegtäuschen. Allerdings wird der eine oder andere Hörer, den zwar nur leichten, aber dennoch unverkennbaren sächsischen Dialekt von Lade wohl mitunter als störend empfinden, wenn man die 6 CDs von „Kolyma“ jedoch ohne große Unterbrechungen anhört, fällt dies spätestens ab der dritten CD kaum noch auf.
Fazit
Zweifelsohne ist Tom Rob Smith einer der vielversprechendsten Autoren des Thrillergenres. Für seinen zweiten Roman hätte er sich allerdings wohl besser etwas mehr Zeit nehmen sollen. Nichtsdestotrotz ist „Kolyma“ kein schlechter Thriller und besonders als fiktive Nacherzählung bzw. Beschreibung der russischen Post-Stalin Ära interessant. Es bleibt indes zu hoffen, dass Smith die Figur des Leo Demidow nicht so schnell wieder „begraben“ wird, und dass der (hoffentlich irgendwann erscheinende) dritte Roman um diesen komplexen Protagonisten und Anti-Helden dann wieder nicht nur durch eine dichte Atmosphäre, sondern auch durch eine solide Rahmenhandlung zu überzeugen weiß.