Miss Lonelyhearts

Inhaltsverzeichnis
Musik

Saltatio Mortis – Finsterwacht

Musik

Daryl Hall – D

Klassik

Stephan Moccio – Legends, Myths And Lavender

Nathanael West: Miss Lonelyhearts

Zu viel Schmerz schmerzt
Vor kurzem ist Doktor Sommer gestorben. Der Mann aus der Bravo, der zuständig für die zwei Seiten in dem Jugendmagazin gewesen ist, die den Pietisten noch heute ein Dorn im Augen sind. Doktor Sommer hieß in Wahrheit gar nicht Doktor Sommer, doch der Name passte so gut zu den Themen Aufklärung, Pubertät und Sexualität. Die Sonne geht auf, rein bildlich gesprochen.

Ob sich die Redaktion samt Doktor Sommer die Fragen nach der ersten Schambehaarung oder vorzeitiger Ejakulation ausgedacht haben? Es ist zumindest möglich – nach der Authentizität hat aber keiner der jungen Leser gefragt, die Probleme haben eh alle gehabt und wie dankbar ist der Leser, wenn er sieht, dass es auch anderen so geht und dass Hilfe möglich ist. Was hat Dr. Sommer mit dem erstmals auf Deutsch erschienenen Buch Miss Lonelyhearts zu tun? Nun, Doktor Sommer ist Miss Lonelyhearts!

Sie haben zumindest den gleichen Job, der Kummerkasten sein in einem Printmagazin. Miss Lonelyhearts bei einer New Yorker Zeitung in den roaring twenties – die Fragen sind sehr ähnlich. Verzweifelte, ratlose, jammernde Leserinnen und Leser, die Miss Lonelyhearts, die in Wahrheit ein Mann ist, der seinem wirklichen Namen aber im Buch nicht einmal preisgibt, so richtig schön auf die Nerven gehen.

Wenn also Miss Lonelyhearts auf Arbeit ist, dann sitzt sie gedankenversunken vor der Schreibmaschine, hämmert erste Abschnitte in die  Tasten, um sie gleich wieder zu verwerfen. Was will man den Versagern da draußen schon Aufmunterndes sagen? Vor allem, wenn man schon zigmal das Gleiche geschrieben hat?

Den größten Teil bringt Wests Hauptperson aber nicht in der Redaktion zu, sondern in verbotenen Kneipen (Prohibition), in Taxis oder bei Menschen, denen Miss Lonelyhearts das große Sammelsurium ihrer eigenen Gestörtheiten ausbreiten kann. Bei ehemaligen und aktuellen Geliebten und auch bei ihrem/seinem Boss namens Shrike, dessen Frau er begattet und dessen Spott er tagtäglich erdulden muss.

Das ganze Buch ist eine große Groteske, ein ungewöhnliches, verrücktes, nicht immer leicht zu verdauendes Buch. Es ist derbe, dick aufgetragen und besticht durch Neurosen und Psychosen der Protagonisten, nicht mit Charme, Witz oder Reiz, sondern mit Grauen und dem Unrat menschlicher Depressionen, die das amerikanische Wirtschaftssystem zu Beginn des 20. Jahrhunderts so genüsslich und massiv geboren hat.

Nathaniel West, selbst nur mit einem kurzen, wilden Leben gesegnet, ist eine interessante Entdeckung für alle, die sich mit wirklich modernen, sagen wir ruhig alternativen Werken auseinandersetzen möchten. Mir fällt jedenfalls nichts Vergleichbares ein.

Das Layout ist sehr ansprechend, die Aufmachung edel, nur die Fußnoten stehen leider nicht bei  Fuß, sondern ganz am Ende des Buches. Das ist deshalb umso ärgerlicher, weil sie ungemein lesenswert sind (der Übersetzer gibt richtig gute Hintergrundinformationen) und ein jeder weiß, wie nervig das ständige Blättern zwischen hinten und vorne ist.

Fazit:
Ein freches, subtil anarchistisches Werk, wunderbar aufgemacht in höchster Qualität. Der Manesse-Verlag wirbt nicht umsonst mit dem so wunderbaren Spruch: Wenn lesen, dann erlesen. Recht haben Sie, zur Not fragen Sie Doktor Sommer.

newsletter-sign-up | Rezensions
Abonnieren Sie unseren Newsletter

Nach oben scrollen