J.D. Salinger: Neun Erzählungen
Kranke Menschen, gesunde Erzählungen
Was muss man machen, um zu Weltruhm zu gelangen? Ungezählte Romane auf höchstem Niveau abliefern, hunderte Gedichte voll Schönheit und Inbrunst? Dazu vielleicht noch ein Drehbuch, Novellen, Essays und Kritiken in Zeitungen und Zeitschriften?
Jerome David Salinger kam just mit dem Gegenteil aus: ein Roman von Weltformat, ein paar Kurzgeschichten und ein paar längere Erzählungen – danke, das war’s. Und schon hat sich die amerikanische Kulturwissenschaft auf die Salinger-Ära vom Ende der 1940er bis zum Ende der 1950er Jahre eingeschossen, begründet vor allen Dingen durch den Fänger im Roggen, der 1951 erschien und –Achtung! – innerhalb von drei Jahren zehn Millionen Exemplare weltweit verkaufte.
Ob es daran lag, dass Salinger als Pionier moderner Sozialkritik gelten darf und ungeschminkte Ausdrucksweisen zum Besten gab?
Über 200mal wird Goddam erwähnt und das obszöne Wort mit dem F am Anfang, das heute in jedem amerikanischen Popsong zum state of the art gehört, war damals so verpönt wie das Wort Geil in Deutschland Anfang der 1980er Jahre.
Ein echter Wachrüttler also, der ja in der biederen US-Kultur der Nachkriegszeit auch dringend nötig gewesen ist – Beatniks und Elvis kamen erst später dran.
Nachdem Heinrich Böll und seine Frau Annemarie für die ersten Übersetzungen in Deutschland verantwortlich waren und dem Autor damit zu weiterem Ruhm verhalfen, hat sich Eike Schönfeld 2003 an die Übersetzung Salingers gemacht und auch dafür 2004 einen renommierten Übersetzerpreis eingeheimst.
Die Neun Geschichten, oder nine stories, die 1953 erstmals erschienen, stammen auch aus der berühmten Hochperiode des Autors, die um kurz vor und nach Dekadenwende 1950 entstanden.
Behandelt werden Menschen aus der nähren Umgebung Salingers, reale amerikanische Mittelklassenteilnehmer aus New York und New England, die vor allen Dingen der eigenen Moral ausgeliefert sind: typisch streng gläubige, der protestantischen Ethik verhafteten, rechtschaffende Bürger, deren Maximen, so zeigt der Autor, ins Verderben führen werden.
Unglückliche Ehen, alkoholabhängige Wohlstandstraumatisierte, verzweifelte Suizide – schön enden die Geschichten selten und gesund sind die Protagonisten (zumeist seelisch) auch nicht.
Aufheiternd ist aus literarischer Sicht die Enttarnung der Oberfläche, die Naivität amerikanischen Mittelstandes, die Perversion menschlicher Geistesgestörtheit – da muss man sich einfach wiederfinden, um sich mit Hilfe der Kunst vor dem Monstrum zu distanzieren.
Fazit:
Salingers Sprache ist dynamisch, ist jung, geht auch heute noch als modern durch. Die Geschichten sind tragikomisch, immer heftig, meistens mit unschönem Ende, geboren in ungekünstelter Sozialwirklichkeit.
Die neue Übersetzung ist frisch und reißt mit, das Buch in der gebundene Ausgabe hat kein Vorwort, kein Nachwort, keine Werbung auf den letzten Seiten, noch nicht einmal Informationen zu Autor oder Übersetzer – es ist reine Prosa.
Erfolgreiche, weltberühmte Prosa im gelben Umschlag. Pure Kraft.