Ralf Nestmeyer: Provence / Cote d‘ Azur
Reisen wie Gott in Frankreich
Es ist schon lustig bis interessant, schaut man sich einmal auf der Homepage des Michael Müller Verlags um und studiert dessen Geschichte. 1979, zur Zeit von Post-Punk, Pershing und dem letzten Aufglimmen politischer Eigenständigkeit, war so manches noch möglich, was einen heute sentimental werden lässt.
Einen kleinen Reiseverlag gründen, zum Beispiel, anders sein wollen, anders sein können, und Reisebücher gegen Posteingang eines Schecks zum Kunden schicken. Das klingt nach Abi-Zeitung und sieht in den Anfangsjahren auch irgendwie so aus, ist aber mittlerweile ein fantastischer Reiseverlag mit Sitz im fränkischen Erlangen geworden, der verdient Bestnoten bei allen Kritikern einheimst.
Ralf Nestmeyer ist der ideale, weil professionelle und seit langer Zeit erfahrene Mann für eine seiner persönlichen Lieblingsgegenden: die Provence, der man ja, auch politisch (also im Namen der entsprechenden Region) die Cote Azur und die maritimen Alpen hinzu gesellt.
Auch wenn sich der Name dieses Bundeslandes (so in etwa könnte man die französischen Regionen bezeichnen) noch viel schlimmer anhört als Mecklenburg-Vorpommern (und das muss man erst mal schaffen), ist die Landschaft mit allem, was sie bietet, wohl eine der Topadressen Europas überhaupt.
Alpine Berggipfel, duftende Lavendelfelder, neu- und altreiche Wahnsinnsvillen am blauen Mittelmeer und kulturelle Großzügigkeiten, die man in dieser Dichte nur in Frankreich finden kann.
Dass Van Gogh hier malte und sich danach zum Sterben bereit machte, ist ja nur eines von vielen Anekdötchen auf dem Weg zum Ruhm dieser Gegend.
Von technischer Seite fällt auf, dass es einige Besonderheiten gibt, die andere Reiseführer nicht haben. Denn, Entschuldigung, aber das dachten Sie sich ja auch bereits, hier geht es um Tipps für Urlauber in jenen Regionen und – ach Wunder – Verpflegung, Übernachtung, Reiserouten und alle möglichen Servicetipps sind quasi logischerweise inbegriffen.
Was ist hier anders und gut, was macht, wie der Verlag es selbst nennt, das Individuelle aus? Praktisch finde ich vor allen Dingen die Übersichtlichkeit, denn es wimmelt nur so von Karten, allerdings immer an der richtigen Stelle.
So ist der Führer in sechs regionale Abschnitte aufgeteilt, die ganz dem Standard, Ort für Ort, Attraktion für Attraktion mit oben genannten Hinweisen abgearbeitet werden. Dazu serviert man schöne Fotos und Telefon, Internet, Adressen, Freizeitoptionen, sogar Fahrradvermietung und Markttage sind mit dabei.
Wo aber genau auf der Karte ist denn nun jener kleine, verträumte Bergort, der sich rein textlich und bildlich schon mal richtig gut anfühlt. Und siehe da: auf jeder Seite sind ganz am Rande Hinweise zu den entsprechenden Karten dieser Region; das ist top und äußerst benutzerfreundlich.
Wie man überhaupt den Eindruck gewinnen kann, dass Autor und Verlag wirklich nichts an Informationen auslassen und man nicht nur mit Lesen, sondern auch mit Nachreisen ein halbes Leben lang beschäftigt sein könnte.
Aber hallo, dennoch kommt das gute Stück im schnuckeligen Paperbackformat mit geschicktem Satz daher – ein leichter, dennoch kompakter Brummer.
Auffällig: Historisches und Kulturelles, Künstlerviertel, Ausstellungshighlights, Skulpturverrücktheiten – gerade für die Freigeister unter den Reisenden ist dieser Führer unverzichtbar, setzt er doch schon auf der Startseite mit interessanten Hinweisen zum ersten Film der Filmgeschichte, zum Parfum Chanel No 5 oder Nostradamus Herkunft klare Zeichen, welche Bereiche hier wichtig sind.
Ebenso auffällig: just jene Kultur tummelt sich wie verrückt am Meere und so nimmt die Region Cote Azur fast einen so großen Platz ein wie alle anderen zusammen. Das finde ich eindeutig zu viel des Guten, aber da spricht auch der Bergfreund und Meergelangweilte aus mir heraus.
Fazit:
Ein kompetenter, kompletter, sehr gut recherchierter und vom Aufbau her wunschlos glücklich machender Reiseführer, der seine Stärken in Richtung Kultur und Kunst legt, der dabei aber das Wandern, die Natur und vor allen Dingen das Baden nicht vergisst.
Wie 1979 ist zwar fast nirgendwo mehr, aber mit dem Führer hier kann man eventuell nochmal dahin kommen, individuell und eigenständig.