Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

Sie nennt ihr Buch einen Roman – ich denke, es ist eher ein spannender Erlebnisbericht mit vielen Reflexionen, Erinnerungen und Gedanken, und so ist es auch gewissermaßen eine einfühlsame Beziehungsgeschichte. Christa Wolf will aber die Identität der Personen, die erwähnt werden, nicht preisgeben. Sie erzählt von ihrem mehrmonatigen Aufenthalt in Los Angeles, der Stadt der Engel. Dort war sie Anfang der 90er Jahre Stipendiatin im Getty-Center. Offensichtlich waren die Amerikaner neugierig auf sie, sie wurde häufig eingeladen, befragt, interviewt. Sie ist im Center und im Hotel MS Victoria, in dem sie wohnt, die einzige aus der nicht mehr existierenden DDR – und mit über 60 die Älteste. Die DDR, das Leben in diesem vergangenen Staat und die „Wende“ sind immer wieder Themen in den Gesprächen und Fragen, auch in ihren reflektierten Erinnerungen.

Ihren mehrmonatigen Aufenthalt wollte sie eigentlich nutzen, um über „L“ zu recherchieren und zu schreiben, deren Briefe ihr eine verstorbene Freundin hinterlassen hat und von deren Existenz sie bisher nichts wusste. Aber dazu kommt es nicht, wir erfahren über „L“ nur etwas aus ihren Briefen. Aber wir erfahren einiges über andere Immigranten in der Nazizeit, die es nach USA, nach L.A. verschlug, auch über Holocaustopfer und ihre Nachkommen, und wir erfahren viel über Christa Wolfs Leben in Los Angeles, über ihre Mitstipendiaten aus vielen Ländern, über ihre Gespräche und Gedanken dazu. Sie beobachtet das Leben auf den Straßen der Stadt, in den einzelnen Vierteln, beschreibt es mit ihren Empfindungen. Man sieht beim Lesen Los Angeles vor sich, ihre Ausdehnung, ihre breiten Straßen, die Schönheit der kalifornischen Küste und die berauschenden Sonnenuntergängen. Und wir erfahren einiges über amerikanisches Alltagsleben, über die Menschen aus aller Welt, die hier leben und sich durchbeißen, die oft diskriminiert werden und trotzdem irgendwie stolz auf die USA sind.

Sie beschreibt z.B. eine Episode aus dem Supermarkt, wo ein Farbiger ihr in der Kassenschlange ein Päckchen Süßigkeiten und einen Dollarschein zu ihren Einkäufen legt mit der stummen Bitte, dies für ihn mit zu erledigen. Sie ist überrascht und versteht nicht sein Handeln, bezahlt aber und sieht sich nach ihrem „Auftraggeber“ um. Der erscheint dann auch, nimmt strahlend und mit überschäumender Dankbarkeit Hände schüttelnd seine Ware in Empfang. Christa Wolf ist sprachlos, interpretiert dann aber dieses Verhalten: Für ihn, den Farbigen, den sicher oft diskriminierten, war es ein Versuch, ein gelungener Versuch, seine Identität, seine Vollwertigkeit anerkannt, bestätigt zu finden. Er war als Mensch einem Menschen begegnet.

Wir lesen hier einen Roman. So bleibt es dem Leser überlassen, ob er „Peter Gutmann“, ihren vielfachen Gesprächspartner, als reale oder nur als fiktive Person sieht. Peter Gutmann ist wichtig in diesem Buch, er gibt Ratschläge, Denkanstöße und tröstet. Trost, Hilfestellung braucht Christa Wolf nicht nur, um ihre Eindrücke von Beobachtungen und Gesprächen zu verarbeiten, sondern vor allem, als sie gefaxte Nachrichten aus Deutschland erreichen über ihre IM-Tätigkeit Anfang der 60er Jahre. Sie zweifelt an sich, weil ihr die eigene Erinnerung an diese Tätigkeit verloren gegangen ist. Sie versucht, Geschehnisse aus dieser Zeit sich ins Gedächtnis zu rufen, und sie schreibt auf, Tagebuchnotizen, Gedanken, Reflexionen. So erfährt der Leser einiges aus ihrem Leben in der DDR, über die junge Studentin und FdJlerin und überzeugte Kommunistin, die später enttäuscht ist von der Entwicklung, trotz allem aber bleibt in ihrem Land. Sie steht dazu mit einem gewissen Trotz, der so weit geht, dass sie bei der Einreise in die USA dem Beamten auf die Frage nach ihrem Herkunftsland antwortet: „Ostdeutschland“. Sie hat ihren noch gültigen Pass der DDR präsentiert. Sie stellt später dieses Verhalten selbst in Frage. Und sie schreibt auf, tippt in ihr Maschinchen – wie sie es nennt und oft tut – im Buch stets extra hervorgehoben – :

Was wäre denn das richtige Leben im richtigen gewesen. Wenn es uns bei Kriegsende geglückt wäre…..noch über die Elbe zu kommen? …..Wäre ich unter den anderen, den richtigen Verhältnissen ein anderer Mensch geworden? Klüger, besser, ohne Schuld? Und warum kann ich immer noch nicht wünschen, mein Leben zu tauschen gegen jenes leichtere, bessere?“ (gekürztes Zitat Seite 71)

Man spürt die Dünnhäutigkeit der Autorin und ihre Schutzbedürftigkeit. Sie sucht diesen Selbstschutz und findet etwas davon im „Overcoat of Dr. Freud“, in diesem Mantel, der noch existiert und dessen Geschichte ihr erzählt wird, nämlich dass man in diesem Mantel jeder Situation gewachsen sein würde. Am Ende des Buches bietet ihr Angelina, ihr schwarzer Engel – aus der Figur einer farbigen Putzhilfe hervorgegangen – in manchen Situationen Rat und Schutz.

Fazit:

Das Buch war für mich ein spannendes Erlebnis. Pralles Leben wurde vor mir ausgeschüttet. Ich habe vieles über die USA erfahren, auch über manches aus der DDR. Christa Wolf nimmt den Leser mit in ihre Begegnungen, ihre Gedanken und Empfindungen. Es ist ein anregendes und informatives Buch, mit dem man sich beschäftigt und auseinandersetzt.

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