Train friends

Ninette Preis: Train friends. Frauenfreundschaften im indischen Nahverkehrszug Ladies Special

Train friends ist eigentlich eine Disseration. Dissertationen müssen bestimmten Kriterien genügen und sind deshalb für den normalen Leser extrem leseunfreundlich. Trotzdem habe ich dieses Buch gelesen und es auch nicht bereut. Über manche zu ausführlichen Stellen und über Fußnoten muss man eben hinwegehen und sich nicht beirren lassen.

Ninette Preis hat längere Zeit in Mumbai (Bombay) gelebt, sie ist morgens mit den Pendlerinnen mitgefahren, ebenso abends zurück, sie hat Hindi gelernt und Freundschaften geschlossen. Der Ladies Special ist ein Nahverkehrszug nur für Frauen. Was uns heute anachronistisch erscheint, hat in Indien sehr wohl seine Berechtigung. Auch „normale“ Nahverkehrszüge haben im Allgemeinen extra Ladies Compartments, einzelne Abteile nur für Frauen, aber da die Abteile durch vergitterte Fenster miteinander verbunden sind, können Männer hineinschauen, auch wenn sie nicht hinüberkommen können. Die einzelnen Abteile der Nahverkehrszüge sind nicht miteinander verbunden. Männer können nur hineinschauen, aber sie geben auch Kommentare ab und überbieten sich oft gegenseitig mit anzüglichen und einfach nur beleidigenden Bemerkungen. Im Ladies Special sind Frauen davor geschützt.

Auch das übliche Gedränge in den Nahverkehrszügen zu den Stoßzeiten ist etwas geringer in den Frauenzügen, als in den normalen. Das Gedränge beim Ein- und Aussteigen ist für den Mitteleuropäer unvorstellbar. Viele Frauen haben dabei schon Schuhe verloren, Ketten oder Brillen und ihre Kleidung zerrissen. Aus- und Einsteigen erfordert eine spezielle Technik. Schon ein Stück vor der Haltestelle verknoten die Frauen lose Kleidung fest am Körper, stecken Ketten unter die Kleidung und nehmen Brillen ab. Dann wird sich – hauteng – vor der Tür aufgereiht, fertig zum Absprung. Die Bilder aus japanischen Zügen, in denen Helfer die Menschenmassen zusammenschieben, wirken dagegen vergleichsweise harmlos. Sitzplätze gibt es natürlich auch nur begrenzt und niemals ausreichend. Und hier nun kommen die von Ninette Preis erforschten Frauenfreundschaften ins Spiel. In den oft stundenlangen Fahrten zum und vom Arbeitsplatz bilden sich Freundschaftsgruppen. Man hält einander Plätze frei, lässt die Freundin auf dem eigenen Schoß sitzen, man unterhält sich, tauscht Kochrezepte und Handarbeitstipps aus, erzählt sich Kummer und Sorgen vom Arbeitsplatz, schnippelt auf dem Heimweg schon mal zusammen das Gemüse für das Abendessen, singt und feiert zusammen und trotzt so auch der Langeweile. Manche dieser Feundschaftsgruppen tragen sogar über das Fahren im Zug hinaus. Man trifft sich, lädt sich gegenseitig ein.

Die jungen Frauen der indischen Mittelklasse können hier eine Freundin wählen, ohne dass die zur Verwandtschaft gehört oder eine Nachbarin ist und ohne dass die Familie mitredet. Endlich einmal sind die Frauen frei in ihren Vorlieben und Entscheidungen. Um mit den Freundinnen zusammen zu sein und relativ entspannt im Frauenzug fahren zu können, nehmen viele Frauen längere Anfahrtszeiten auf sich oder fahren früher als nötig. Der in unseren Augen recht kleine Freiraum ist ihnen sehr wichtig.

Ninette Preis hat mehrere Freundschaftsgruppen untersucht, wie setzen sie sich zusammen, nach Alter, Herkunft, Sprache, Religion? Was bedeutet den Frauen ihre Gruppe, was macht man zusammen? Wenn sich die Leserin durch die Dissertation liest, öffnet sich ihr ein Fenster in eine fremde Welt. Hier sind die Frauen aber Handelnde, nicht nur Leidende, wie wir es gerade in dem sehr guten, aber doch sehr niederschmetternden Arte-Film gesehen haben. Inderinnen haben noch einen langen Weg zur Gleichberechtigung und vor allem zur Wertschätzung durch die Männer vor sich. Hier sind interessante Ansätze zu sehen – aber auch schmerzliche Einsichten, wenn der Tagesablauf einer normalen berufstätigen Mittelklasse-Frau vorgestellt wird, die kaum eine Nacht mehr als sechs Stunden Schlaf bekommt. Kurz nach vier Uhr früh ist die Nacht zu Ende.

Fazit

Hochinteressant – und beachtenswert. Obwohl es schwierig ist, eine Dissertaion zu lesen, lohnt sich die Mühe auf jeden Fall, es ergeben sich Einblicke in eine unbekannte Welt, in der Frauen Handelnde sind und sich unter schwierigsten Umständen einen Freiraum geschaffen haben.

 

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