C.G. Jung: Typologie
Menschliche Grundlage
Dass die kulturelle und geistige Entwicklung des Menschen seit mindestens einhundert Jahren auf dem absteigenden Ast ist, sieht man nicht nur an den verkrampften und unförmigen Körpern der Moderne, sondern spiegelt sich auch in einer dem Hedonismus verpflichteten, dabei aber der Sinnhaftigkeit widersprechenden Mentalität. Über all dem steht eine politisch-soziale Gleichmacherei, die allen Ökonomen und Profiteuren der Massenhaltung gerecht wird, der menschlichen Eigenart aber zuwider läuft. Wäre jene Typologie vom großen C.G. Jung, die just im DTV neu aufgelegt worden ist, ein Standardwerk der Bildung, dann bräuchten wir über jene Missstände nicht zu lamentieren.
Wie großartig und lebenswirklich das ist, was Jung da erstmals 1921 veröffentlicht hat, lässt sich im Umkehrschluss sogar daran erkennen, dass sich bis heute jedwede wissenschaftliche Schule weigert, die Conclusio verantwortungsvoll zu integrieren. Dass es nämlich, wie Jung auf über 250 Seiten verständlich darlegt, vier menschliche Typen gibt (Denkende, Empfindende, Fühlende, Intuierende) sowie jeweils zwei Ausprägungsformen, namentlich der Extro- und der Introvertismus, ist nicht nur empirisch naheliegend, sondern folgt auch einer langen Tradition, die fälschlicherweise per defintionem nicht mehr akzeptiert wird.
Bei Empedokles und Aristoteles hat Jung eben auch hingesehen und festgestellt: Ja, auch wenn die guten, alten Griechen das damals in ziemlich vertrackte und nicht immer logische Systeme gebracht haben – das Grundprinzip bleibt bestehen. Und Jung baut es zur Logik aus, auch wenn er dabei – das ist wohl überhaupt der einzige Makel bei seinem gesamten Oeuvre – immer mal wieder sprachliche Barrieren aufbaut, wenn er sich in Fremdwörter oder Schachtelsätze hineinsteigert.
Noch einmal: dieses Buch könnte theoretisch die Bibel aller menschlichen Typologisierungen und Pyscholiogismen sein, würde man sich getrauen, sie anzunehmen. Dass Jung den – für seine Zeit fast verzeihlichen – Fehler begeht, den Denktypus in der Reihenfolge als erstens anzustellen, ist verglichen mit dem Opus Magnus, das seinem Schaffen innewohnt, hinnehmbar. Auch dass der DTV-Verlag in dieser Neuauflage anscheinend selbst nicht so genau weiß, was für ein Highlight er da dem Lettershop übergeben hat. Wie sonst sollte man einen schwarzen Einband mit dem Ausschnitt eines roten Kreises auf weißem Hintergrund als Layout wählen können? Vier Farben, vier Richtungen oder vier Typen wären sinnvoll gewesen ist, das was jetzt da ist, ist abstrakte Kunst, die allenfalls aussagt: das ist uns zu abstrakt. Ist es eben nicht. Es ist genial und dennoch sollte wohl jeder, der dieses Buch nicht kennt, hier zugreifen. Layout und übrigens auch Schriftart (ungewöhnlich und eher verstörend) können der Kraft nichts anhaben – das Buch ist für offene Geister ein Muss!
Fazit:
Man sollte vor Glück die Welt anstrahlen, dass bei DTV diese Herrlichkeit neu aufgelegt worden ist. Natürlich könne man auch die eine halbe Seite in der Kunst des Pirschens lesen, in der es Don Juan schafft, die vier Typen klarer und prägnanter wie niemand anders zu definieren, aber wer hat schon so viel Vorstellungskraft und Mut. Bei Jung, dem wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts (nebst Max Weber), gibt es das gleiche großartige Menü, mit Vorspeise und Nachtisch, mit Definitionen, Erklärungen, Hellsichtigkeit, kurzum: Die Basis menschlichen Verhaltens!