Haruki Murakami: 1Q84
Ein angehender Schriftsteller überarbeitet das Buch eines siebzehnjährigen Mädchens, in dem eine Handvoll „little people“ eine Puppe aus Luft basteln, während am Himmel zwei Monde stehen. Eine ziemlich tough erscheinende junge Frau bringt im Auftrag einer alten Lady Männer um, die sich der Gewalt an Frauen schuldig gemacht haben. Dabei hinterlässt sie dank einer einmaligen Technik keine, wirklich keine Spur.
Ein paar Nebenfiguren, einer merkwürdigen Sekte und George Orwell („1984“) zum Trotz: Eigentlich haben die 1500 Seiten von Haruki Murakamis Opus Magnum nur ein Ziel: diese beiden Menschen, die dem Anschein nach nichts miteinander zu tun haben, zusammenzubringen.
Romantische Universalpoesie?
Dem wohl bekanntesten japanischen Schriftsteller gelingt in diesem kühnen Kolportage-Werk nicht weniger als das, was die deutschen Romantiker vor 200 Jahren als „Universalpoesie“ beschrieben: eine Literatur, die mittels allerhand paradoxer Techniken, Verschachtelungen und Spiegelbilder die ganze Wirklichkeit in sich aufnehmen kann. Wozu neben dem Sicht- und Greifbaren, neben Zeitungsnachrichten und ganzen Buchauszügen natürlich auch das Unheimliche, das Unsichtbare und das Unwirkliche gehören.
Der Stoff, aus dem dieses so umfangreiche Märchen ist, ist ansonsten ganz von dieser Welt: Murakami erzählt sehr berührend von Einsamkeit und Sehnsucht, von der Unerfülltheit des Lebens in der Gegenwart und dem tiefen, ungestillten Begehren, das jeder kennt. Tengo, der Schriftsteller, und Amomame, die Mörderin, haben sich beide in ihren Appartements halbwegs eingerichtet: ein Job sorgt für ein sorgenfreies Leben, Liebe ist eine regelmäßig in Form sexueller Aktivität wiederkehrende Episode. Höhepunkte gibt es kaum. Ein Funken Leidenschaft kommt auf beim Überarbeiten fremder Bücher (Tengo) oder bei dem Rächen ihr selbst unbekannter Frauen (Amomame).
Fragezeichen an das eigene Leben!
Dann allerdings erscheinen tatsächlich zwei Monde am Himmel – genauso wie in den von Tengo überarbeiteten Aufzeichnungen des Mädchens, das wie fremdbestimmt durch Murakamis Roman läuft. Oder ist sie, Fukaeri, die eigentliche Drahtzieherin? Ist Amomame etwa die Hauptdarstellerin in dem Roman, den die Wirklichkeit gerade über Tengo schreibt? Währenddessen schlüpfen die „little people“ aus den Mündern von Menschen, die ganz real und wirklich tot sind, und eine Schwangerschaft ist möglich, ohne dass es zum „Verkehr“ kam?
Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit wird in „1Q84“ mehrfach und in beide Richtungen überschritten. Man könnte auch sagen: Gemeinsam mit den Hauptfiguren tritt man durch das Buch hindurch in eine andere Wirklichkeit und durch die Wirklichkeit zurück in dieser oder ein ganz anderes Buch. Nicht nur die „little people“ sind dabei eine Anspielung an George Orwells Negativ-Utopie „1984“ (und seinen „Big Brother“).
Das Verwirrspiel um all die merkwürdigen Begebenheiten klärt Murakami in den drei Büchern (im Deutschen auf zwei Bände verteilt) nicht wirklich auf. Das macht aber nichts: 1500 Seiten lang verfolgt man gebannt, fasziniert, erregt und berührt die Irrwege der beiden Hauptfiguren, die vom unbarmherzigen Autor über weite Strecken an der Nase herumgeführt werden. Die Welt in „1Q84“ ist eine nur in wenigen Details von der „wirklichen“ Welt abweichende – aber genau diese Abweichung braucht es, um die Sehnsucht der Liebenden in Bewegung zu setzen.
Fazit
In einer fast kindlichen Sprache erzählt Murakami ein Märchen, das es in seiner Spannung mit Stephen King, in seiner gern auch mal kitschigen Schönheit mit Herrmann Hesse und in seiner Komplexität mit einer ganzen Bibliothek aufnehmen kann. Seine Figuren sind nicht wirklich unglücklich. Aber das Fragezeichen, das plötzlich in ihrer Welt auftaucht, wühlt ihre Phantasie auf, so wie die zwei Monde die Gezeiten verändern. Ein anderes Leben ist möglich? Ich will mein Leben ändern? Wem diese Fragen vertraut sind, der findet in diesem glücklichen Gipfeltreffen von anspruchsvoller Literatur und vermeintlich trivialer Gegenwartskultur ein fesselndes Spiegelbild.