Ernst Pohlmann: Atlastherapie und Behandlung der Körperfehlstatik: Therapie bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern
Hilfe von oben
Die Physiotherapie hat gegenüber der Orthopädie den großen Vorteil der tatsächlichen, reellen Bewegungsmöglichkeiten. Statt mit chemischen Wundermitteln, Operationen oder lokaler Symptombehandlung zu operieren, stehen dem Krankengymnasten deutlich mehr – lebenswirklichere – Optionen zur Verfügung. Ob diese allerdings auch lebensgerecht sind, ist eine spannende Frage, die man leicht – während einer Therapie – am eigenen Leibe erfahren kann .Auch das hier vorliegende Buch von Ernst Pohlmann bietet dazu reichlich Gelegenheit, es ist vollbepackt mit anspruchsvoller Diagnose, Therapiekonzepten, mit Praxis- und Arbeitserfahrung des Dozenten und über seine Grenzen hinaus bekannten Physiotherapeuten.
Im Zentrum steht dabei zunächst das im medizinischen Sprech Atlantookzipitalgelenke genannte oberste Wirbelsäulengelenk des menschlichen Körpers. Allein an dieser Ausrichtung wird erkennbar, dass Pohlmann zumindest über den Tellerrand der mechanischen Lokaltherapie hinaus denken kann, denn viele orthopädische wie auch organische Störungen können hier ihren Ursprung haben. Darüber hinaus aber bietet dieses Buch einen kompletten Leitdfaden der Körperfehlstatik, ausgehend vom Kopf bis hinunter zu den Füßen. Das subjektive Verständnis des Körpers zeigt sich hier besonders deutlich. Atlas, Halswirbelsäule, Kiefergelenk oder Schultergürtel werden besonders hervorgehoben werden und auch die weiteren großen Gelenke und Problemzonen (LWS, Hüfte, Knie, Iliopsoas) werden ausführlich dargestellt und für alle diese Bereiche Diagnose, Therapie und Übungen vermittelt. Der Fuß hingegen fällt in Pohlmanns Betrachtung ab – dies als Beispiel, wenn man sich mal dem gegenüber einen Physiotherapeuten vorstellt, der sein ganzes Konzept von unten her aufbaut. Was nämlich durchaus legitim ist und im biologisch-orthopädischen Sinne auch genau so sinnvoll ein kann. Nichtsdestotrotz ein für die großen und wichtigen Körperstellen (abgesehen vom Fuß) reichhaltiges Angebot.
Das große Angebot wird vor allen Dingen durch die zahlreichen Bilder im Buch unterstützt, durch die – da muss man konsequent durch – wissenschaftliche Fachsprache, durch die saubere Gliederung, durch Übungen für die Patienten (Hausaufgabensektion), durch Tipps zum kinesiologischen Taping (ein weiteres Spezialgebiet des Autors), durch die klassische physiotherapeutische Trias (Anamnese, Kausalzusammenhänge, Therapiemöglichkeiten), durch Fallbeispiele und ein ausführliches Glossar am Ende des Buches.
Negativ fallen zunächst das relativ schmale Literaturverzeichnis auf und die bisweilen etwas überfrachtend wirkende Bild- und Passagenverteilung. Apropos Bild: manchmal ist es etwas erstaunlich wie ein einziges Modell es schafft, anatomische und funktionelle Fehlstellungen nebst den korrekten Stellungen zu simulieren. Da wären tatsächliche Patienten mit den entsprechenden Fehlstellungen lebensechter gewesen, als die von diesem Modell künstlich ausgeführten Fehler.
Fazit:
Ein sehr fundiertes, profundes und sehr reichhaltiges Werk, das große praktische und theoretische Hilfestellung anbietet, das optimal bebildert (wenn auch nicht immer so angeordnet) ist, das für den Krankengymnasten zur besonderen Unterstützung werden kann. Das Einzige ist auch am Ende die Frage nach der Lebenswirklichkeit, die aber nur jeder für sich selbst beantworten kann. Pohlmanns Ansatz jedenfalls ist nicht ganzheitlich, dafür ist es zu medizinisch, in dem Bereich aber umfassend und vielschichtig. Vom Kopf ausgehend ein wertvoller Baustein von einem Fachmann und eine gute Zusammenfassung für die physiotherapeutische Praxis.