Hans Kricheldorf: Menschen und ihre Materialien: Von der Steinzeit bis heute
Materie aus Sicht der Chemie
Für wen ist denn dieses Buch geschrieben? Ganz offensichtlich doch für den interessierten Laien, den Forscher mit Vorkenntnissen, den historisch-kulturell Faszinierten. Und warum diese Einstiegsfrage bei der Rezension des Sachbuches aus dem Hause Wiley-VCH? Weil dieses an sich so spannende und aufklärerische Buch manchmal den Bogen vom Akademiker zum Menschen mit Interesse nicht sauber ziehen kann, was im Übrigen der einzige (wiewohl in Wissenschaftskreisen sehr gängige) Makel dieses Werkes von Hans Kricheldorf ist.
Ziehen wir mal schnell einen Vergleich: es gibt einen Geologen mit Namen Küster, der schreibt auf ganz ähnlichem Gebiete ganz hervorragende Bücher. Er geht ganz ähnlichen Fragen nach wie der Chemiker Kricheldorf: nämlich der historisch alternativen Sichtweise auf Entwicklungsstufen der Menschheit. Statt Kaiser und Könige stehen bei Küster Landschaften und Nahrungsmittel, bei Kricheldorf nun Materialien und Rohstoffe im Mittelpunkt. Wie also hat sich der Mensch mit Hilfe von Kupfer, Bronze, Eisen und Stahl, von Glas und Plastik, von Gummi und Textilien entwickelt? Oder anders: wie haben diese auf ihn, und wie der Mensch auf diese gewirkt?
Dabei entsteht automatisch Raum für neues, umfassenderes und in gewisser Weise auch ehrlicheres Gedankengut; wenn nämlich ohne bestimmte Entwicklungen, manche, auch mentale Errungenschaften, gar nicht erst möglich gewesen wären. Toll ist das, und vieles, was vorher selbstverständlich war, wird nun hinterfragt und im anderen Licht betrachtet. Leider vollzieht sich das meistens auf einer nach wie vor dogmatischen und vor allen Dingen primär chemischen Ebene. Interdisziplinäres Denken, das so wichtige Schlagwort moderner Wissenschaftsgenerationen, fehlt hier größtenteils.
Wen interessieren denn die chemischen Formeln all dieser Kunststoffe oder wie Kricheldorf sie zu Recht bezeichnet, der künstlichen Werkstoffe? Warum gibt es dann am Ende kein Glossar oder weitere Hilfestellungen für die Nicht-Chemiker unter den Lesern? Und warum wird die schulmedizinische Entwicklung als die größte Errungenschaft aller Zeiten preisgekürt, jede noch in den 1960er Jahren unhinterfragte biochemische Disziplinierung als up to date ausgegeben? Gut, könnte man argumentieren, aus wissenschaftlicher Sicht ist das eben so, aber es gibt mittlerweile genügend Beispiele – auch aus chemischen Kreisen – die eine deutlich umfassendere, dem modernen mechanistischen Denken kritischer gegenüber stehende Schreib- und Denkweise bevorzugen.
Hat man sich allerdings mit diesem sehr strengen, man darf ruhig altbacken sagen, und den Fetisch männlicher Wissenshierarchie preisenden Gesang ausgesöhnt bzw. kann das ein oder andere furchtbare Bonmot (Ohne Kunstdünger könnte nur ein Viertel der Menschen überleben!) links liegen lassen, dann hat man fundierten, kompakten und häufig interessanten Wissensstoff zum Lesen.
Fazit:
Inhaltlich hoch interessant hat man es hier mit einem Autor ganz, ganz alter, trockener und sehr naturwissenschaftlich höriger Schule zu tun, die gerade am Ende der einzelnen Kapitel mit vielen quasi moralisierenden Säuberungen (moderne Medizin ist immer gut, andere Dinge wie Formel-1-Rennen oder ähnliches, was dem Autor nicht gefällt, sind per se schlecht) stören. Noch störender und völlig unerklärlich ist, dass der Großteil der Literaturhinweise von – Achtung! – Wikipedia stammt. Das kapiere wer will, macht dann aber letztlich die vorherigen Kritikpunkte verständlicher.