Jürgen Freiwald: Optimales Dehnen: Sport – Prävention – Rehabilitation
Sportwissenschaft auf höchstem Niveau
Der neuste Stand zum Thema Dehnen wird in der nunmehr zweiten Auflage des Standardwerks von einer der sportwissenschaftlichen Koryphäen hierzulande, Professor Freiwald von der Universität Wuppertal, postuliert. Und tatsächlich gibt es einige interessante neue Aspekte zu honorieren, die wirklich wichtigen und revolutionären Fakten aber wurden in den 1980er und 1990er Jahren aufgedeckt – eben von Professor Freiwald und einigen Kollegen. Viel dringender ist es immer noch, diese Erkenntnisse den Bewegungsinteressierten näher zu bringen. Dieses Werk ist dafür besonders empfehlenswert.
Dass das besonders notwendig ist, davon kann sich jeder überzeugen, wenn er im Breiten-, bisweilen aber auch im Hochleistungssport die Augen offen hält. Viele kontraproduktive, verletzungsgefährdende Methodiken sind beim Dehnen, speziell in Kombination mit dem eigentlichen Sport, allgegenwärtig. Zu lange haben die alten Dogmen (häufig noch von Turnvater Jahn) Zeit gehabt, um sich in das kollektive Verständnis der Beweglichkeit einzunisten. Dabei ist dieses Thema viel zu komplex und medizinisch anspruchsvoll. Nur gut, dass Jürgen Freiwald eine wahre Eminenz auf dem Gebiet ist und er in umfassender und deutlicher Art und Weise zu allen relevanten Themen in diesem Buch Stellung nimmt.
Wie er gleich zu Beginn konstatiert, ist die Wissenschaft weit davon entfernt, die kompletten physiologischen Abläufe einer Dehnung zu verstehen; umso lohnenswerter ist die Herangehensweise, die bei Freiwald glücklicherweise zumindest in vielen Ansätzen ein ganzheitliches Verständnis des Menschen offenbart. Was beim Thema Dehnen ja ohnehin eine bedeutende Rolle spielt, weil der vegetative Reflex dieser Bewegungsmethodik stark auf den Nervenhaushalt des Trainierenden einwirkt.
Die 18 Kapitel haben Antworten auf alle Anfragen und bieten – wie eingangs erwähnt – den aktuellen Stand der Dinge: die Rolle der Titin-Filamente, die verschiedenen Methodiken und ihre Wirkungen, die Voraussetzungen von Anatomie und Muskulatur, die Rolle des Dehnwiderstandes, des Bindegewebes, der Biomechanik und der Physiologie – komplex und komplett. Da bleiben keine Fragen offen.
Sehr schön die Idee, die einzelnen Kapitel mit einer Miniübersicht der Schlagwörter einzuleiten; noch anwendungsfreundlicher das Kapitelende, wo Zusammenfassung und Konsequenzen geliefert werden. An der Stelle fällt aber auf, dass es sich letztlich immer noch um ein akademisches Werk handelt, denn in manchen Kapiteln lässt die Übersicht (auch in der eigentlichen Übersicht) doch merklich nach, besonders dann, wenn über vierzig verschiedene Merksätze in den Konsequenzen keinen wirklichen Überblick – zumindest visuell – mehr bieten.
Alle gängigen Hinweise (das isolierte Dehnen, die pluralistische Vorgehensweise, die sozialen Aspekte) sind Gold wert und jedem Praktiker ans Herz gelegt. Das kann man leider von dem abschließenden Praxiskapitel nicht sagen, bei dem die Fotografien samt der männlichen Modelle doch arg an der biologischen Wirklichkeit vorbei produziert sind. Muskelbepackte Athleten, die so mir nichts dir nichts in den Spagat hüpfen, versehen mit dem einfachen Hinweis die Beine dabei zu strecken. Das ist – ähnlich wie in vielen Yogabüchern – leider komplett an der Didaktik für Anfänger oder therapierelevante Personen vorbei gedacht.
Wer aber die grundlegenden theoretischen Hinweise akribisch durchforstet, braucht diese vermeintlichen Vorbilder gar nicht, sondern kann biologisch sinnvoll die Beweglichkeit als entscheidenden Faktor menschlicher Bewegungsfreude verstehen.
Fazit:
Ein Meilenstein. Nach wie vor gehört dieses Werk in jeden sportinteressierten Haushalt, von denen der Profis ganz zu schweigen. Und? Was ist in der zweiten Auflage wirklich neu? Momentan sieht es so aus, als würde das dynamische Dehnen in der Wertigkeit hinter das Anspannungs-Entspannungs-Dehnen zurücktreten. Und das immer mehr psychosoziale Aspekte beim Umgang mit dem Körper eine Rolle spielen. Willkommen im Leben!