Schnee

Schnee von Taeko Kono

Hayako, eine junge Frau im Tokyo der 1960er Jahre, verliert ihre (Stief)Mutter an Herzversagen an einem Silvestermorgen. Ihr Freund Kasaki unterstützt sie moralisch, und nach der Beerdigung machen sie mit dem Zug einen Ausflug in das japanische Inland.

Als es zu schneien beginnt, erfährt der Leser von Hayakos „Leiden“, wie sie es selbst nennt, nämlich eine Neurose, die sich immer bei Schneefall einstellt. Hayako hatte in frühester Kindheit ein traumatisches Erlebnis, als ihre (Stief)Mutter sie bei Erwähnung des Wortes Schnee in den verschneiten Garten hinausschickte und drohte, sie dort zu lassen und nicht mehr ins Haus zurückzuholen. In etwas höherem Alter erfährt Hayako dann von ihren Eltern, dass die Mutter vor vielen Jahren ihre Stiefschwester – ebenfalls Hayako genannt – im Schnee umgebracht hat und danach Hayako, die damals von ihren Eltern offiziell noch nicht als Kind registriert war, als eben diese ältere Schwester ausgegeben haben, um den Tod zu vertuschen. Hayako musste also ihr gesamtes Leben nicht nur mit dem Trauma „Schnee“ zurechtkommen, sondern auch mit der Tatsache, dass man sie als kleines Mädchen für ein zwei Jahre älteres Kind ausgegeben hat, mit der Konsequenz, dass sie natürlich Schwierigkeiten hatte, in der Schule mitzukommen.

Dies hat schwere Spuren auch in der erwachsenen Hayako hinterlassen, die während des Ausfluges mit ihrem Freund schließlich in eine Katastrophe münden.

Fazit

Schnee ist ein kurzer Roman von nur 40 Seiten, der jedoch sprachlich so dicht geschrieben ist, dass der Leser schon auf den ersten Seiten den Eindruck hat, tief in der Geschichte angekommen zu sein. Mit wenigen – sehr einfachen, aber äußerst präzisen – Worten und Sätzen zeichnet die Autorin im wahrsten Sinne des Wortes die Geschichte und ihren sozialen und kulturellen Hintergrund so ausdrucksvoll, wie es viele Autoren sonst nur auf vielen hundert Seiten vermögen. Dass dies auch in der deutschen Übersetzung so gut transportiert wird, ist der hervorragenden Übersetzung des deutsch-japanischen Übersetzerteams von Hiroomi Fukuzawa und Ida Herzberg zu verdanken.

Das Buch selbst wirkt fast wie handgemacht – schwere doppelt gefaltete und nicht geschnittene Seiten, eine gut lesbare, aber selten für Bücher verwendete Schrifttype, ein liebevoll gestalteter Einband: eine Art Pergamentpapier als durchscheinendes Cover über dem Buch selbst, der deutsche Buchtitel „Schnee“ und der japanische Originaltitel als japanische Kalligraphie auf cremefarbenem Japanpapier auf das Buch aufgeklebt, so dass dies wie in einem Passepartout wirkt.

Unmerklich lernt der Leser dabei viel über die japanische Gesellschaft und deren Spielregeln, wie beispielsweise die situationsgerechte typisch japanische Redewendung „da kann man nichts machen“ (sho gai nai auf Japanisch), den Berufsalltag, in den japanische Frauen damals noch kaum richtig hingehörten, oder die Sitte, als Frau spätestens mit 24 Jahren verheiratet zu sein und vorher selbstverständlich auch nicht in wilder Ehe zusammenzuleben. Die Geschichte ist daher auch gleichzeitig eine sehr interessante Dokumentation des japanischen Alltags von vor 50 Jahren.

Taeko Kono ist eine noch lebende japanische Schriftstellerin, die in ihrem Heimatland sehr bekannt ist und zahlreiche Preise gewonnen hat. Leider sind ihre Romane und Erzählungen in deutscher Sprache nur selten erhältlich, die hier vorliegende Ausgabe des Buches (siehe http://opac.ndl.go.jp/recordid/000003166896/jpn)  auch im normalen Buchhandel nicht mehr verfügbar, jedoch können interessierte Leser ebenfalls sehr schöne Zusammenstellungen dieser und weiterer Geschichten der Autorin in englischer Sprache auch in deutschen Buchhandlungen (online und offline) finden.

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