Shawn Jarvis: Im Reich der Wünsche: Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen
Weibliche Schätze aus dem Archiv
Majestätisch thronen sie über den Sagen, Legenden und Märchen der frühen Neuzeit. Die Gebrüder Grimm, denen man es sogar zugesteht, sie so zu bezeichnen wie es anno dazumal geläufig war. Oder hat schon mal jemand von den Brüdern Grimm gesprochen? Aus pädagogischer und psychologischer Sicht ist deren Oeuvre – Achtung, es folgt Unerhörtes! – eine der schlimmsten Volksverdummungen, die man sich nicht einmal in der Hölle vorstellen kann. Eine zutiefst aufgeklärte, moralisch erdrückende und pedantisch gründliche Entzauberung der Welt. Das muss hier nicht weiter erörtert werden, die Aufschreienden und Brüskierten mögen sich bei Jean Piaget, C.G. Jung oder Max Weber umschauen, um Erklärungen zu finden. Ja, so ist das mit den deutschen Hausmärchen.
Einen der vielen negativen Höhepunkte der Grimmschen Weltsicht ist desweiteren die patriarchalische, kleinbürgerliche Familienspießigkeit, die sich wie ein dunkler Schatten auf die Sozialstruktur der Inhalte legt. Der Vater ist der Herr im Haus, die Frau die Dienerin, die Kinder die zu manipulierenden Minimaschinen. Solch eine Vorstellung kommt nicht nur aus der Feder von Männern selbst, aber – wie der ausgesprochen alternative Band deutscher Märchen von Frauen aus der gleichen Zeit beweist – nicht immer auch von Frauen.
Erstaunlich ist schon die Tatsache, dass eine amerikanische Germanistin aus Minnesota (seien wir so frei und bezeichnen diesen Bundesstaat einfach mal als den US-Hotzenwald) sich für die Edition und Sammlung dieser innovativen Ausgabe verantwortlich zeigt. Sie hat in Archiven und Bibliotheken geforscht und gestöbert und richtige Schätze hervor gebracht. Die sich zum einen inhaltlich nicht viel von den Grimmschen Moralpredigten unterscheiden, die zum anderen aber ein wirklicher Quell emanzipatorischer, naturnaher und verzauberter Weltbeschreibungen sind.
Louise Dittmars Affenmärchen ist so ein verqueres, fast schon postmodernes Werk, dass nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich ganz andere, revolutionäre, Ansichten vorstellt. Fanny Leiwalds modernes Märchen könnte man darüber hinaus auch heutzutage im Jugendbuch-Sektor ohne Probleme an den Mann respektive die Frau bringen. Und Charlotte von Ahlefelds Erzählung Die Nymphe steckt so voller weiblicher Liebeskraft und bezaubernder Sprachgewalt, dass sie sich vor Kleist oder Novalis (die Erzählung erschien 1812) in keinster Weise verstecken braucht.
Auf der anderen Seite gibt’s natürlich auch die braven Schreiberinnen, die moralisieren und sich ganz dem Grimmschen Duktus anpassen, aber sie dienen in dieser Zusammenstellung eher als historische Komplettierung, denn als abschreckende Fabel.
Absolut großartig sind neben der Auswahl zum Teil völlig unbekannter Autorinnen neben einigen Klassiker (die Droste, Ricarda Huch) auch die Illustrationen und das Layout des Buches. Ein gediegener Einband, dezente Rahmenfarben und feine Kleinode von hübschen Zeichnungen.
Fazit
So schlimm die Meinung des Rezensenten zum Hausschatz der Brüder Grimm (und Brentano und Co), so dankbar ist er für diese historisch einzigartige, äußerlich hochklassige und inhaltlich unterhaltsame, lehrreiche und – ja! – zauberhafte Zusammenstellung. Willkommen zurück in der Welt der Phantasie, willkommen im Märchen. Das 19. Jahrhundert war eben nicht nur das Maschinen- und Größenwahnzeitalter, sondern auch Teil erfolgreicher Naturbesinnung. Man muss nur wissen, wo man zu gucken hat.